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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Inedrich Khopin.*)
Von H. W. Schletterer.

Der Ausspruch R. Schumann's, welcher der jüngst erschienenen Chopin-
Biographie als Motto vorgesetzt ist: "Chopin ist und bleibt der kühnste und
stolzeste Dichtergeist der Zeit" bezeichnet mit seltener Prägnanz das Wesen und
die Bedeutung des früh dahingeschiedenen Meisters. Chopin war ein Tondichter'im
besten Wortsinne, ein Dichter, der die süßesten, zartesten und duftigsten Klänge
zu finden, die rührendsten Melodien und die überraschendsten Harmonien zu
ersinnen, die geheimsten Saiten der Empfindung anzuschlagen wußte; und doch,
bei aller oft sentimentalen Weichheit und träumerischen Verschwommenheit war
er zugleich ein kühner, stolzer Geist, der den Muth hatte, seine eigenen, einsamen
Bahnen zu wandeln, und eine vornehme, aristokratische Natur, die vor jeder
Berührung mit der Außenwelt oder mit niederer Denkungsart scheu und leicht¬
verletzt zurückschrak. Chopin ist vorzugsweise der Lyriker unter unsern modernen
Tonsetzern, er hat die Pianofvrteliteratur mit den reizendsten und romantischsten
musikalischen Poesien bereichert. Seinen Kompositionen wurde es uicht leicht,
Eingaug und allgemeine Verbreitung zu finden; ihre eigenartige Natur, ihr, dem
im Grunde doch poesielosen Instrumente anscheinend fremder Inhalt, ihre
dielfach absonderliche harmonische und melodische Conception und die Schwierig¬
keiten, die sie einer vollendeten Ausführung bezüglich des Fingersatzes und der
Weitgrisfigkeit in den Weg stellen, schreckten die Pianisten, die an den eleganten
und brillanten, stets spielbaren und klaviermäßigen Werken eines Hummel,
Moscheles, Field, Kalkbreuner, Herz u. a. großgezogen worden waren, von



*) Friedrich Chopin. Sein Leben, seine Werke und Briefe von Moritz Kara-
sowski. Mit dein Portrait Chopin's und der facsimilirten Originalhandschrift seines N-invI!
Präludiums. (Op. 23, Ur. 4). 2 Bde. Dresden, F. Ries. -- Mit diesem Aufsätze eröffnen
wir eine Reihe von Artikeln über neue Erscheinungen ans dem Gebiete der MusMiteratnr
D. Red. aus der Feder unseres geschätzten Mitarbeiters.
Grenzboten III. 1877. 51
Inedrich Khopin.*)
Von H. W. Schletterer.

Der Ausspruch R. Schumann's, welcher der jüngst erschienenen Chopin-
Biographie als Motto vorgesetzt ist: „Chopin ist und bleibt der kühnste und
stolzeste Dichtergeist der Zeit" bezeichnet mit seltener Prägnanz das Wesen und
die Bedeutung des früh dahingeschiedenen Meisters. Chopin war ein Tondichter'im
besten Wortsinne, ein Dichter, der die süßesten, zartesten und duftigsten Klänge
zu finden, die rührendsten Melodien und die überraschendsten Harmonien zu
ersinnen, die geheimsten Saiten der Empfindung anzuschlagen wußte; und doch,
bei aller oft sentimentalen Weichheit und träumerischen Verschwommenheit war
er zugleich ein kühner, stolzer Geist, der den Muth hatte, seine eigenen, einsamen
Bahnen zu wandeln, und eine vornehme, aristokratische Natur, die vor jeder
Berührung mit der Außenwelt oder mit niederer Denkungsart scheu und leicht¬
verletzt zurückschrak. Chopin ist vorzugsweise der Lyriker unter unsern modernen
Tonsetzern, er hat die Pianofvrteliteratur mit den reizendsten und romantischsten
musikalischen Poesien bereichert. Seinen Kompositionen wurde es uicht leicht,
Eingaug und allgemeine Verbreitung zu finden; ihre eigenartige Natur, ihr, dem
im Grunde doch poesielosen Instrumente anscheinend fremder Inhalt, ihre
dielfach absonderliche harmonische und melodische Conception und die Schwierig¬
keiten, die sie einer vollendeten Ausführung bezüglich des Fingersatzes und der
Weitgrisfigkeit in den Weg stellen, schreckten die Pianisten, die an den eleganten
und brillanten, stets spielbaren und klaviermäßigen Werken eines Hummel,
Moscheles, Field, Kalkbreuner, Herz u. a. großgezogen worden waren, von



*) Friedrich Chopin. Sein Leben, seine Werke und Briefe von Moritz Kara-
sowski. Mit dein Portrait Chopin's und der facsimilirten Originalhandschrift seines N-invI!
Präludiums. (Op. 23, Ur. 4). 2 Bde. Dresden, F. Ries. — Mit diesem Aufsätze eröffnen
wir eine Reihe von Artikeln über neue Erscheinungen ans dem Gebiete der MusMiteratnr
D. Red. aus der Feder unseres geschätzten Mitarbeiters.
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[0409] Inedrich Khopin.*) Von H. W. Schletterer. Der Ausspruch R. Schumann's, welcher der jüngst erschienenen Chopin- Biographie als Motto vorgesetzt ist: „Chopin ist und bleibt der kühnste und stolzeste Dichtergeist der Zeit" bezeichnet mit seltener Prägnanz das Wesen und die Bedeutung des früh dahingeschiedenen Meisters. Chopin war ein Tondichter'im besten Wortsinne, ein Dichter, der die süßesten, zartesten und duftigsten Klänge zu finden, die rührendsten Melodien und die überraschendsten Harmonien zu ersinnen, die geheimsten Saiten der Empfindung anzuschlagen wußte; und doch, bei aller oft sentimentalen Weichheit und träumerischen Verschwommenheit war er zugleich ein kühner, stolzer Geist, der den Muth hatte, seine eigenen, einsamen Bahnen zu wandeln, und eine vornehme, aristokratische Natur, die vor jeder Berührung mit der Außenwelt oder mit niederer Denkungsart scheu und leicht¬ verletzt zurückschrak. Chopin ist vorzugsweise der Lyriker unter unsern modernen Tonsetzern, er hat die Pianofvrteliteratur mit den reizendsten und romantischsten musikalischen Poesien bereichert. Seinen Kompositionen wurde es uicht leicht, Eingaug und allgemeine Verbreitung zu finden; ihre eigenartige Natur, ihr, dem im Grunde doch poesielosen Instrumente anscheinend fremder Inhalt, ihre dielfach absonderliche harmonische und melodische Conception und die Schwierig¬ keiten, die sie einer vollendeten Ausführung bezüglich des Fingersatzes und der Weitgrisfigkeit in den Weg stellen, schreckten die Pianisten, die an den eleganten und brillanten, stets spielbaren und klaviermäßigen Werken eines Hummel, Moscheles, Field, Kalkbreuner, Herz u. a. großgezogen worden waren, von *) Friedrich Chopin. Sein Leben, seine Werke und Briefe von Moritz Kara- sowski. Mit dein Portrait Chopin's und der facsimilirten Originalhandschrift seines N-invI! Präludiums. (Op. 23, Ur. 4). 2 Bde. Dresden, F. Ries. — Mit diesem Aufsätze eröffnen wir eine Reihe von Artikeln über neue Erscheinungen ans dem Gebiete der MusMiteratnr D. Red. aus der Feder unseres geschätzten Mitarbeiters. Grenzboten III. 1877. 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/409>, abgerufen am 02.05.2024.