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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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der Kirche, sie gehorchten ihren geistlichen Oberen; der Protestantismus
erschien ihnen als eine bedauerliche Verirrung. Aber allerdings gingen
ihre Bestrebungen darauf aus, die Religion mit dem Geiste der Zeit
zu versöhnen. Fanatismus, priesterliche Herrschsucht und Anmaßung hielten
sie für ein Unglück. Ans ihrer Fahne stand: Christliche Milde und Toleranz.
Als Ideal schwebte ihnen ein Reich der Gottesfurcht, der Liebe und Duldung
aller gegen alle vor. Klarheit und Entschiedenheit sucht man bei ihnen freilich
vergebens. Ihre Ziele waren verschwommen und nebelhaft, und über die
Mittel und Wege befanden sie sich vollkommen im Dunkeln. Was sie leitete,
war mehr ein allgemeines Wohlwollen als bestimmte fest umschriebene Ge¬
danken. Doch waren sie durchweg denkende und wissenschaftlich gebildete
Männer, die mit der Zeit fortgeschritten und die sich nicht fürchteten, Meinun¬
gen und Ansichten, die von den ihrigen abwichen, kennen zu lernen.




Schweizer Keisevriefe.
i.

Auf zwei neuen Schienenwegen vermag der deutsche Tourist seit diesem
Jahre von Basel aus in das Herz der Schweiz vorzudringen. Die erste dieser
Bahnen nimmt den Reisenden im Centralbahnhof zu Basel in Empfang und
führt ihn, unter Abschneidung des großen Umweges über Otter, direkt der
Westschweiz zu bis Viel. Es ist die Jura-Bahn, die das bisher nur dem Post-
verkehr zugängliche Münsterthal dem Dampfroß erschlossen hat. Der Tourist,
der seineu Wanderstab nach Bern oder den Urkcmtonen tragen will, mag kürzer
über Otter fahren. Remer wird ihn der Umweg über die Jura-Bahn keines¬
falls. Keine audere Bahnlinie bringt auch nur annährend in dem Maße wie
diese die hohe Schönheit des innern Jura zur Geltung. Keine führt den
Reisenden, der die Schweiz zum ersten Male betritt, so anziehend ein in die
Eigenart des Gebirgscharcckters des Landes. Einige Zeit wird es dauern, bis
der große Touristenverkehr diese bisher abseits der Heerstraße gelegenen Thäler
beachten und den aufgefahrenen Gleisen der Centralbahn den Rücken kehren
wird, um das Auge den großartigen Landschaftsbildern zuzuwenden, die schon
vor zweitausend Jahren des starren Römers Seele mit frommem Schauder
erfüllten, wenn er auf kunstvoll gebahnter Heerstraße von Aventicum nach
Angusta Rauraeornm zog, unter grausig zerrissenen überhängenden Felsen hindurch,
hart an den Abgründen entlang, in deren Tiefen die schäumende Birs tost.
Dagegen bedarf es auch keiner Sehergabe zu weissagen, daß, wenn erst einmal


der Kirche, sie gehorchten ihren geistlichen Oberen; der Protestantismus
erschien ihnen als eine bedauerliche Verirrung. Aber allerdings gingen
ihre Bestrebungen darauf aus, die Religion mit dem Geiste der Zeit
zu versöhnen. Fanatismus, priesterliche Herrschsucht und Anmaßung hielten
sie für ein Unglück. Ans ihrer Fahne stand: Christliche Milde und Toleranz.
Als Ideal schwebte ihnen ein Reich der Gottesfurcht, der Liebe und Duldung
aller gegen alle vor. Klarheit und Entschiedenheit sucht man bei ihnen freilich
vergebens. Ihre Ziele waren verschwommen und nebelhaft, und über die
Mittel und Wege befanden sie sich vollkommen im Dunkeln. Was sie leitete,
war mehr ein allgemeines Wohlwollen als bestimmte fest umschriebene Ge¬
danken. Doch waren sie durchweg denkende und wissenschaftlich gebildete
Männer, die mit der Zeit fortgeschritten und die sich nicht fürchteten, Meinun¬
gen und Ansichten, die von den ihrigen abwichen, kennen zu lernen.




Schweizer Keisevriefe.
i.

Auf zwei neuen Schienenwegen vermag der deutsche Tourist seit diesem
Jahre von Basel aus in das Herz der Schweiz vorzudringen. Die erste dieser
Bahnen nimmt den Reisenden im Centralbahnhof zu Basel in Empfang und
führt ihn, unter Abschneidung des großen Umweges über Otter, direkt der
Westschweiz zu bis Viel. Es ist die Jura-Bahn, die das bisher nur dem Post-
verkehr zugängliche Münsterthal dem Dampfroß erschlossen hat. Der Tourist,
der seineu Wanderstab nach Bern oder den Urkcmtonen tragen will, mag kürzer
über Otter fahren. Remer wird ihn der Umweg über die Jura-Bahn keines¬
falls. Keine audere Bahnlinie bringt auch nur annährend in dem Maße wie
diese die hohe Schönheit des innern Jura zur Geltung. Keine führt den
Reisenden, der die Schweiz zum ersten Male betritt, so anziehend ein in die
Eigenart des Gebirgscharcckters des Landes. Einige Zeit wird es dauern, bis
der große Touristenverkehr diese bisher abseits der Heerstraße gelegenen Thäler
beachten und den aufgefahrenen Gleisen der Centralbahn den Rücken kehren
wird, um das Auge den großartigen Landschaftsbildern zuzuwenden, die schon
vor zweitausend Jahren des starren Römers Seele mit frommem Schauder
erfüllten, wenn er auf kunstvoll gebahnter Heerstraße von Aventicum nach
Angusta Rauraeornm zog, unter grausig zerrissenen überhängenden Felsen hindurch,
hart an den Abgründen entlang, in deren Tiefen die schäumende Birs tost.
Dagegen bedarf es auch keiner Sehergabe zu weissagen, daß, wenn erst einmal


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/434>, abgerufen am 02.05.2024.