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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Wie sehr würde der Schöpfer seinen Zweck verfehlt haben,
wenn er nichts als Schönheit gewesen wäre!

Der Zweck der Schöpfung ist himmlische Vollkommenheit, nicht wie sie
die Sinne fassen, sondern wie sie die Vernunft begreift. Diese himmlische
Venus muß der Denker sich hüten, mit der irdischen zu verwechseln: das Ver¬
gnügen an der verständlichen, in sich gegründeten Vollkommenheit ist unendlich
erhaben über dem Vergnügen an der Sinnlichen, oder wie wir Irdischen sie
nennen, an der Schönheit."

Die "Briefe über die Empfindungen," aus der diese Stellen genommen
sind, erschienen Sept. 1755; bereits ein halb Jahr vorher hatte Winkel manu
die Schrift herausgegeben, in welcher Deutschland ein neues, entgegengesetztes
Evangelium verkündet wurde.




Ale türkischen Irauen.

Soeben ist bei Calman, Levy und Compagnie in Paris ein Buch er¬
schienen, welches den Titel sührt I^ö8 ?snuu,ks 'Iur<Ms xar OsuiÄii Lsz^
(Major Vladimir Andrejevich). Wer darin gewöhnlichen Haremsklatsch suchen
wollte, würde sich enttäuscht fühlen -- es ist vielmehr ein ernstes Buch, welches
uns mit gewissen sozialen Krebsschäden der Türkei vertraut macht und daher
im gegenwärtigen Augenblicke besondere Beachtung verdient. Wer Osmcin Bey
ist, wissen wir nicht; der zweite in Klammern auf dem Titel stehende Namen
Vladimir Andrejevich deutet auf slavischen Ursprung des Verfassers, womit
allerdings nicht stimmt, daß er als Türke schreibt und von sich sagt nourri
as,QS 1ö hors-it, .j'su LvnnAis los ästours; er spricht von "unserem Harem",
"unseren Sklaven." Gleichviel wer der Verfasser aber auch sein mag, er
schreibt nicht über die alte Türkei, die alte Haremswirthschaft, sondern über
die Türkei der Gegenwart. Allerdings erinnert er sich noch der Geschichte, daß
der vergleichsweise milde Sultan Abdul Medschid zwei liederliche Sultaninen
und ihre Liebhaber umbringen ließ. Aber das "Säcken" und die "seidene
Schnur" spielen im vorliegenden Buche keine Rolle mehr. Osman Bey schil¬
dert uns die "aufgeklärte" Türkei und obgleich er sein Vaterland liebt, seine
Fehler nur mit Glanzhandschuhen anfaßt, gesteht er doch, daß aus der Türkei
nichts werden kann, bevor nicht zwei Gebrechen derselben, die Erniedrigung
des Weibes und die Sklaverei, beseitigt worden sind.


Wie sehr würde der Schöpfer seinen Zweck verfehlt haben,
wenn er nichts als Schönheit gewesen wäre!

Der Zweck der Schöpfung ist himmlische Vollkommenheit, nicht wie sie
die Sinne fassen, sondern wie sie die Vernunft begreift. Diese himmlische
Venus muß der Denker sich hüten, mit der irdischen zu verwechseln: das Ver¬
gnügen an der verständlichen, in sich gegründeten Vollkommenheit ist unendlich
erhaben über dem Vergnügen an der Sinnlichen, oder wie wir Irdischen sie
nennen, an der Schönheit."

Die „Briefe über die Empfindungen," aus der diese Stellen genommen
sind, erschienen Sept. 1755; bereits ein halb Jahr vorher hatte Winkel manu
die Schrift herausgegeben, in welcher Deutschland ein neues, entgegengesetztes
Evangelium verkündet wurde.




Ale türkischen Irauen.

Soeben ist bei Calman, Levy und Compagnie in Paris ein Buch er¬
schienen, welches den Titel sührt I^ö8 ?snuu,ks 'Iur<Ms xar OsuiÄii Lsz^
(Major Vladimir Andrejevich). Wer darin gewöhnlichen Haremsklatsch suchen
wollte, würde sich enttäuscht fühlen — es ist vielmehr ein ernstes Buch, welches
uns mit gewissen sozialen Krebsschäden der Türkei vertraut macht und daher
im gegenwärtigen Augenblicke besondere Beachtung verdient. Wer Osmcin Bey
ist, wissen wir nicht; der zweite in Klammern auf dem Titel stehende Namen
Vladimir Andrejevich deutet auf slavischen Ursprung des Verfassers, womit
allerdings nicht stimmt, daß er als Türke schreibt und von sich sagt nourri
as,QS 1ö hors-it, .j'su LvnnAis los ästours; er spricht von „unserem Harem",
„unseren Sklaven." Gleichviel wer der Verfasser aber auch sein mag, er
schreibt nicht über die alte Türkei, die alte Haremswirthschaft, sondern über
die Türkei der Gegenwart. Allerdings erinnert er sich noch der Geschichte, daß
der vergleichsweise milde Sultan Abdul Medschid zwei liederliche Sultaninen
und ihre Liebhaber umbringen ließ. Aber das „Säcken" und die „seidene
Schnur" spielen im vorliegenden Buche keine Rolle mehr. Osman Bey schil¬
dert uns die „aufgeklärte" Türkei und obgleich er sein Vaterland liebt, seine
Fehler nur mit Glanzhandschuhen anfaßt, gesteht er doch, daß aus der Türkei
nichts werden kann, bevor nicht zwei Gebrechen derselben, die Erniedrigung
des Weibes und die Sklaverei, beseitigt worden sind.


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[0110] Wie sehr würde der Schöpfer seinen Zweck verfehlt haben, wenn er nichts als Schönheit gewesen wäre! Der Zweck der Schöpfung ist himmlische Vollkommenheit, nicht wie sie die Sinne fassen, sondern wie sie die Vernunft begreift. Diese himmlische Venus muß der Denker sich hüten, mit der irdischen zu verwechseln: das Ver¬ gnügen an der verständlichen, in sich gegründeten Vollkommenheit ist unendlich erhaben über dem Vergnügen an der Sinnlichen, oder wie wir Irdischen sie nennen, an der Schönheit." Die „Briefe über die Empfindungen," aus der diese Stellen genommen sind, erschienen Sept. 1755; bereits ein halb Jahr vorher hatte Winkel manu die Schrift herausgegeben, in welcher Deutschland ein neues, entgegengesetztes Evangelium verkündet wurde. Ale türkischen Irauen. Soeben ist bei Calman, Levy und Compagnie in Paris ein Buch er¬ schienen, welches den Titel sührt I^ö8 ?snuu,ks 'Iur<Ms xar OsuiÄii Lsz^ (Major Vladimir Andrejevich). Wer darin gewöhnlichen Haremsklatsch suchen wollte, würde sich enttäuscht fühlen — es ist vielmehr ein ernstes Buch, welches uns mit gewissen sozialen Krebsschäden der Türkei vertraut macht und daher im gegenwärtigen Augenblicke besondere Beachtung verdient. Wer Osmcin Bey ist, wissen wir nicht; der zweite in Klammern auf dem Titel stehende Namen Vladimir Andrejevich deutet auf slavischen Ursprung des Verfassers, womit allerdings nicht stimmt, daß er als Türke schreibt und von sich sagt nourri as,QS 1ö hors-it, .j'su LvnnAis los ästours; er spricht von „unserem Harem", „unseren Sklaven." Gleichviel wer der Verfasser aber auch sein mag, er schreibt nicht über die alte Türkei, die alte Haremswirthschaft, sondern über die Türkei der Gegenwart. Allerdings erinnert er sich noch der Geschichte, daß der vergleichsweise milde Sultan Abdul Medschid zwei liederliche Sultaninen und ihre Liebhaber umbringen ließ. Aber das „Säcken" und die „seidene Schnur" spielen im vorliegenden Buche keine Rolle mehr. Osman Bey schil¬ dert uns die „aufgeklärte" Türkei und obgleich er sein Vaterland liebt, seine Fehler nur mit Glanzhandschuhen anfaßt, gesteht er doch, daß aus der Türkei nichts werden kann, bevor nicht zwei Gebrechen derselben, die Erniedrigung des Weibes und die Sklaverei, beseitigt worden sind.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/110>, abgerufen am 02.05.2024.