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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Die Thurme des Schweigens.

Indien ist der Augapfel und das Schmerzenskind der Engländer und mit
dem Besitze dieses kolossalen Reiches steht und fällt der britische Glanz, die
britische Macht. Ueber ein paar hundert Millionen Eingeborene herrscht dort
eine Handvoll Europäer, über denen fortwährend das Damoklesschwert schwebt.
Wer Gelegenheit hat, die Aeußerungen der einheimischen Hindupresse zu ver¬
folgen, der weiß wie es dort gährt und ein Verbot der Preßfreiheit, wie es
kürzlich vom Vicekönige sanktionirt wurde, besagt genug. Zur politischen und
sozialen Gährung kommt dort die religiöse. Das Christenthum macht, trotz
ungeheurer Anstrengungen der Missionäre, nur geringe Fortschritte; die Moham¬
medaner sind durch den Krieg in der Türkei, durch die russischen Eroberungen
in Asien aufgeregt, unter den Hindus haben sich mächtige Reformsekten her¬
ausgebildet. Huugersnöthe decimiren, periodisch mit großer Sicherheit wieder¬
kehrend, im Lande der Diamanten die Bevölkerung. Kurz, es sind überall
unerquickliche Zustände. Mit um so größerem Eifer studiren und beschreiben
die Engländer die wirthschaftlichen, sozialen, politischen und wissenschaftlichen
Verhältnisse Indiens. Die Literatur über das Land ist enorm reich und seine
eigenen literarischen Schätze gelangen in guten Uebersetzungen zu uns. Wir
erinnern uns jedoch uicht seit langem ein Werk über Indien gelesen zu haben,
welches so instruktiv gewesen wäre, als jenes, welches der Sanskritprofessor
Morier Williams soeben publizirt hat.*) Es ist nur ein gewöhnlicher
Oktavband, aber mit überreichen Inhalte, der von den Parsis, den indischen
Hnngersnöthen, dem Mohammedanismus in Indien, dem Einflüsse der euro¬
päischen Civilisation und des Christenthums auf das Land, von den Aus¬
sichten der englischen Herrschaft handelt. An ganz vortrefflichen Schilderungen
ist das Werk überreich und wir glauben uns den Dank der Leser zu erwer¬
ben, wenn wir auf ein hochinteressantes Kapitel des Buches hier näher ein¬
gehen. Man wird erkennen, wie es außer der gewöhnlichen Bestattungsweise
oder der Leichenverbrennung noch eine Beseitigungsart der menschlichen Leichen
giebt, welche für unser Gefühl allerdings etwas revoltirendes hat. Es ist der
Abschnitt von den ^ovsrs ok Lilsncs, den wir hier herausheben. Diese
"Thürme des Schweigens" sind die Bestattungsstätte der Parsis von Bombay,
welche Professor Williams nur durch besondere Vergünstigung des Sir Dscham-
sitschi Dschidschibhoy zu sehen bekam.



*) Uoäsrn IiMa g,na elf Inäis-us, boing s, ssriss imxrsssions, notss s,na söff-z^s.
I^olläon, rrüdner et 0o., 1373.
Die Thurme des Schweigens.

Indien ist der Augapfel und das Schmerzenskind der Engländer und mit
dem Besitze dieses kolossalen Reiches steht und fällt der britische Glanz, die
britische Macht. Ueber ein paar hundert Millionen Eingeborene herrscht dort
eine Handvoll Europäer, über denen fortwährend das Damoklesschwert schwebt.
Wer Gelegenheit hat, die Aeußerungen der einheimischen Hindupresse zu ver¬
folgen, der weiß wie es dort gährt und ein Verbot der Preßfreiheit, wie es
kürzlich vom Vicekönige sanktionirt wurde, besagt genug. Zur politischen und
sozialen Gährung kommt dort die religiöse. Das Christenthum macht, trotz
ungeheurer Anstrengungen der Missionäre, nur geringe Fortschritte; die Moham¬
medaner sind durch den Krieg in der Türkei, durch die russischen Eroberungen
in Asien aufgeregt, unter den Hindus haben sich mächtige Reformsekten her¬
ausgebildet. Huugersnöthe decimiren, periodisch mit großer Sicherheit wieder¬
kehrend, im Lande der Diamanten die Bevölkerung. Kurz, es sind überall
unerquickliche Zustände. Mit um so größerem Eifer studiren und beschreiben
die Engländer die wirthschaftlichen, sozialen, politischen und wissenschaftlichen
Verhältnisse Indiens. Die Literatur über das Land ist enorm reich und seine
eigenen literarischen Schätze gelangen in guten Uebersetzungen zu uns. Wir
erinnern uns jedoch uicht seit langem ein Werk über Indien gelesen zu haben,
welches so instruktiv gewesen wäre, als jenes, welches der Sanskritprofessor
Morier Williams soeben publizirt hat.*) Es ist nur ein gewöhnlicher
Oktavband, aber mit überreichen Inhalte, der von den Parsis, den indischen
Hnngersnöthen, dem Mohammedanismus in Indien, dem Einflüsse der euro¬
päischen Civilisation und des Christenthums auf das Land, von den Aus¬
sichten der englischen Herrschaft handelt. An ganz vortrefflichen Schilderungen
ist das Werk überreich und wir glauben uns den Dank der Leser zu erwer¬
ben, wenn wir auf ein hochinteressantes Kapitel des Buches hier näher ein¬
gehen. Man wird erkennen, wie es außer der gewöhnlichen Bestattungsweise
oder der Leichenverbrennung noch eine Beseitigungsart der menschlichen Leichen
giebt, welche für unser Gefühl allerdings etwas revoltirendes hat. Es ist der
Abschnitt von den ^ovsrs ok Lilsncs, den wir hier herausheben. Diese
„Thürme des Schweigens" sind die Bestattungsstätte der Parsis von Bombay,
welche Professor Williams nur durch besondere Vergünstigung des Sir Dscham-
sitschi Dschidschibhoy zu sehen bekam.



*) Uoäsrn IiMa g,na elf Inäis-us, boing s, ssriss imxrsssions, notss s,na söff-z^s.
I^olläon, rrüdner et 0o., 1373.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/150>, abgerufen am 02.05.2024.