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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Doch die Sache ist nicht zum Scherzen. Ist wirklich, muß man sich
fragen, unsre Jugend an allen fünf Sinnen stumpf und an allen Gliedern
kontrcckt obendrein, daß man ihr mit einem solchen Apparat von geistigem
Bandagenwerk, Krücken, Brillen und Hörrohren zu Hilfe eilen muß? Kann
das Verständniß eines Schiller'schen oder Uhland'schen Gedichtes ihr wirklich
nicht auf eine andere Weise erschlossen werden, als daß man erst Leben und
Odem aus dem Organismus des Dichterwerks hinaustreibt und dann von
der Jugend verlangt, daß sie sich an den dürren, ausgeweideten Bälgen er¬
götzen soll? Gerade in den letzten Wochen ist, aus traurigen Anlässen, überall
in der Presse gegen die Schule der Gegenwart die Anklage erhoben worden,
daß sie zu wenig auf das Gemüth der Jugend wirke, daß der ganze Unterricht
ein zu nüchtern lehrhafter, verstandesmäßiger geworden sei. Nun, ein schlagen¬
derer Beleg für diese Behauptung als das vorliegende Buch könnte wohl kaum
ausfindig gemacht werden.

Charakteristisch ist es übrigens doch, daß das Buch aus den Kreisen der
Realschule hervorgegangen ist. Es ist die Realschule wie sie leibt und lebt,
die aus diesem Buche hervorguckt. Leider ist eben -- der Vorwurf ist ganz
berechtigt -- unser gestimmtes Schulwesen viel zu viel realschulmäßig infizirt;
die Schule muß, wenn es erlaubt ist, diesen Gegensatz zu bilden, wieder mehr
Jdealschule werden. Mit großem Bangen vor der Zukunft warnte schon der
alte Goethe in "Dichtung und Wahrheit" vor dem pädagogischen Irrthum,
"Zeit und Aufmerksamkeit an sogenannte Realitäten zu wenden, welche mehr zer¬
streuen als bilden, wenn sie nicht methodisch und vollständig überliefert
werden". Wenn er hätte ahnen können, daß seine schönsten Gedichte einst dazu
gemißbraucht werden würden, ih^en Text mit dem nichtsnutzigen Notizenkram
M. A. solcher "zerstreuender Realitäten" behängen zu lassen!




Me pariser Weltausstellung.
Adolf Rosenberg. Von
1. Der Troeadero und seine Bauten.

Der gewaltige Flüchenraum, welcher den Schauplatz des großartigen
Turniers bildet, zu dem Frankreich die ganze Welt eingeladen hat, wird durch
die Seine in zwei ungleiche Theile geschieden. Der eine, der größere, ist das
Marsfeld, der große Exerzierplatz gegenüber der Hoolo nMtsirs, auf welchem


Grenzboten II. 1878. 64

Doch die Sache ist nicht zum Scherzen. Ist wirklich, muß man sich
fragen, unsre Jugend an allen fünf Sinnen stumpf und an allen Gliedern
kontrcckt obendrein, daß man ihr mit einem solchen Apparat von geistigem
Bandagenwerk, Krücken, Brillen und Hörrohren zu Hilfe eilen muß? Kann
das Verständniß eines Schiller'schen oder Uhland'schen Gedichtes ihr wirklich
nicht auf eine andere Weise erschlossen werden, als daß man erst Leben und
Odem aus dem Organismus des Dichterwerks hinaustreibt und dann von
der Jugend verlangt, daß sie sich an den dürren, ausgeweideten Bälgen er¬
götzen soll? Gerade in den letzten Wochen ist, aus traurigen Anlässen, überall
in der Presse gegen die Schule der Gegenwart die Anklage erhoben worden,
daß sie zu wenig auf das Gemüth der Jugend wirke, daß der ganze Unterricht
ein zu nüchtern lehrhafter, verstandesmäßiger geworden sei. Nun, ein schlagen¬
derer Beleg für diese Behauptung als das vorliegende Buch könnte wohl kaum
ausfindig gemacht werden.

Charakteristisch ist es übrigens doch, daß das Buch aus den Kreisen der
Realschule hervorgegangen ist. Es ist die Realschule wie sie leibt und lebt,
die aus diesem Buche hervorguckt. Leider ist eben — der Vorwurf ist ganz
berechtigt — unser gestimmtes Schulwesen viel zu viel realschulmäßig infizirt;
die Schule muß, wenn es erlaubt ist, diesen Gegensatz zu bilden, wieder mehr
Jdealschule werden. Mit großem Bangen vor der Zukunft warnte schon der
alte Goethe in „Dichtung und Wahrheit" vor dem pädagogischen Irrthum,
„Zeit und Aufmerksamkeit an sogenannte Realitäten zu wenden, welche mehr zer¬
streuen als bilden, wenn sie nicht methodisch und vollständig überliefert
werden". Wenn er hätte ahnen können, daß seine schönsten Gedichte einst dazu
gemißbraucht werden würden, ih^en Text mit dem nichtsnutzigen Notizenkram
M. A. solcher „zerstreuender Realitäten" behängen zu lassen!




Me pariser Weltausstellung.
Adolf Rosenberg. Von
1. Der Troeadero und seine Bauten.

Der gewaltige Flüchenraum, welcher den Schauplatz des großartigen
Turniers bildet, zu dem Frankreich die ganze Welt eingeladen hat, wird durch
die Seine in zwei ungleiche Theile geschieden. Der eine, der größere, ist das
Marsfeld, der große Exerzierplatz gegenüber der Hoolo nMtsirs, auf welchem


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[0509] Doch die Sache ist nicht zum Scherzen. Ist wirklich, muß man sich fragen, unsre Jugend an allen fünf Sinnen stumpf und an allen Gliedern kontrcckt obendrein, daß man ihr mit einem solchen Apparat von geistigem Bandagenwerk, Krücken, Brillen und Hörrohren zu Hilfe eilen muß? Kann das Verständniß eines Schiller'schen oder Uhland'schen Gedichtes ihr wirklich nicht auf eine andere Weise erschlossen werden, als daß man erst Leben und Odem aus dem Organismus des Dichterwerks hinaustreibt und dann von der Jugend verlangt, daß sie sich an den dürren, ausgeweideten Bälgen er¬ götzen soll? Gerade in den letzten Wochen ist, aus traurigen Anlässen, überall in der Presse gegen die Schule der Gegenwart die Anklage erhoben worden, daß sie zu wenig auf das Gemüth der Jugend wirke, daß der ganze Unterricht ein zu nüchtern lehrhafter, verstandesmäßiger geworden sei. Nun, ein schlagen¬ derer Beleg für diese Behauptung als das vorliegende Buch könnte wohl kaum ausfindig gemacht werden. Charakteristisch ist es übrigens doch, daß das Buch aus den Kreisen der Realschule hervorgegangen ist. Es ist die Realschule wie sie leibt und lebt, die aus diesem Buche hervorguckt. Leider ist eben — der Vorwurf ist ganz berechtigt — unser gestimmtes Schulwesen viel zu viel realschulmäßig infizirt; die Schule muß, wenn es erlaubt ist, diesen Gegensatz zu bilden, wieder mehr Jdealschule werden. Mit großem Bangen vor der Zukunft warnte schon der alte Goethe in „Dichtung und Wahrheit" vor dem pädagogischen Irrthum, „Zeit und Aufmerksamkeit an sogenannte Realitäten zu wenden, welche mehr zer¬ streuen als bilden, wenn sie nicht methodisch und vollständig überliefert werden". Wenn er hätte ahnen können, daß seine schönsten Gedichte einst dazu gemißbraucht werden würden, ih^en Text mit dem nichtsnutzigen Notizenkram M. A. solcher „zerstreuender Realitäten" behängen zu lassen! Me pariser Weltausstellung. Adolf Rosenberg. Von 1. Der Troeadero und seine Bauten. Der gewaltige Flüchenraum, welcher den Schauplatz des großartigen Turniers bildet, zu dem Frankreich die ganze Welt eingeladen hat, wird durch die Seine in zwei ungleiche Theile geschieden. Der eine, der größere, ist das Marsfeld, der große Exerzierplatz gegenüber der Hoolo nMtsirs, auf welchem Grenzboten II. 1878. 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/509>, abgerufen am 02.05.2024.