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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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populäre Unterhaltungsliteratur des zwölften
Jahrhunderts.
Von A. Leonhard. I.

Die poetische Literatur des zwölften Jahrhunderts durchzieht ein schroffer
Gegensatz der Gefiihlsweise: der zwischen heiterer Weltfreude und himmelan¬
strebender Weltflucht. Beide befehden einander in heftiger Polemik und kon-
kurriren stetig um die Gunst des Publikums. Die Kleriker behandeln mora¬
lische Gegenstände, alt- und neutestamentliche Stoffe und Legenden, schreibe!?
Satireu gegen die Weltlichkeit und den Lebensgenuß, gegen die Mode und den
Putz, gegen die Freude an Gastereien, Jagden und schönen Frauen; sie suchen
die Herzen der Zuhörer für die Seligkeit des Jenseits zu bereiten. Alle Freude
und Lust dieser Welt, Macht, Ruhm und Ehre, Mäunerschlachteu und ritter¬
liches Leben verherrlichen dagegen die fahrenden Spielleute; sie erscheinen bei
allen Festlichkeiten, bei Gastmählern und Hochzeiten, auf dem Markte vor dem
Volke und an den Höfen der Edlen und sorgen durch Tanz- nud Liebeslyrik,
durch Gesang von tapferen Helden, von ihren Kämpfen und ihrem fröhlichen
Sinnenleben für die Ergötzung der Anwesenden und die Erhöhung der Fest¬
stimmung. Gar oft locken sie aus der Kirche, wo der Priester Demuth und
Entsagung predigt und gegen übermäßige Vergnügungssucht und ausgelassene
Sinnenfreude seiue mahnende Stimme erhebt, das begehrliche, lebensfrohe Volk
herbei zum Vortrage ihrer weltlichen Mären.

Doch überall, wo Gegensätze sich bekämpfen, finden wir, daß sie im Ver¬
laufe des Kampfes sich einander nähern und Berührungspunkte finden. Den¬
selben Vorgang sehen wir anch in der Literatur des zwölften Jahrhunderts
sich vollziehen. In einzelnen deutschen Gauen, besonders in Baiern und in
den rheinischen Gegenden, wo das Publikum von beiden Seiten, von den
Geistlichen wie von den Vertretern der volksthümlichen Dichtung mit besonderem
Eifer umworben wird, tritt um die Mitte des Jahrhunderts auf literarischem
Gebiete eine interessante An- und Ausgleichung des Geistlichen und Weltlichen
ein. Die Geistlichen verleihen ihren religiösen Stoffen einen gewissen sinnlichen
Reiz und befriedigen das Bedürfniß des Laienpublikums nach kriegerischer
Darstellung und Verherrlichung der Heldenhaftigkeit durch Schilderung von
Kämpfen und Schlachten ritterlicher Helden, die sie mit Geschick in ihre frommen
Erzählungen einzuweben wissen. Die Spielleute andrerseits stecken jetzt die be¬
liebten Helden altgermanischer Sage in das heilige Gewand eines Kreuzritters,


populäre Unterhaltungsliteratur des zwölften
Jahrhunderts.
Von A. Leonhard. I.

Die poetische Literatur des zwölften Jahrhunderts durchzieht ein schroffer
Gegensatz der Gefiihlsweise: der zwischen heiterer Weltfreude und himmelan¬
strebender Weltflucht. Beide befehden einander in heftiger Polemik und kon-
kurriren stetig um die Gunst des Publikums. Die Kleriker behandeln mora¬
lische Gegenstände, alt- und neutestamentliche Stoffe und Legenden, schreibe!?
Satireu gegen die Weltlichkeit und den Lebensgenuß, gegen die Mode und den
Putz, gegen die Freude an Gastereien, Jagden und schönen Frauen; sie suchen
die Herzen der Zuhörer für die Seligkeit des Jenseits zu bereiten. Alle Freude
und Lust dieser Welt, Macht, Ruhm und Ehre, Mäunerschlachteu und ritter¬
liches Leben verherrlichen dagegen die fahrenden Spielleute; sie erscheinen bei
allen Festlichkeiten, bei Gastmählern und Hochzeiten, auf dem Markte vor dem
Volke und an den Höfen der Edlen und sorgen durch Tanz- nud Liebeslyrik,
durch Gesang von tapferen Helden, von ihren Kämpfen und ihrem fröhlichen
Sinnenleben für die Ergötzung der Anwesenden und die Erhöhung der Fest¬
stimmung. Gar oft locken sie aus der Kirche, wo der Priester Demuth und
Entsagung predigt und gegen übermäßige Vergnügungssucht und ausgelassene
Sinnenfreude seiue mahnende Stimme erhebt, das begehrliche, lebensfrohe Volk
herbei zum Vortrage ihrer weltlichen Mären.

Doch überall, wo Gegensätze sich bekämpfen, finden wir, daß sie im Ver¬
laufe des Kampfes sich einander nähern und Berührungspunkte finden. Den¬
selben Vorgang sehen wir anch in der Literatur des zwölften Jahrhunderts
sich vollziehen. In einzelnen deutschen Gauen, besonders in Baiern und in
den rheinischen Gegenden, wo das Publikum von beiden Seiten, von den
Geistlichen wie von den Vertretern der volksthümlichen Dichtung mit besonderem
Eifer umworben wird, tritt um die Mitte des Jahrhunderts auf literarischem
Gebiete eine interessante An- und Ausgleichung des Geistlichen und Weltlichen
ein. Die Geistlichen verleihen ihren religiösen Stoffen einen gewissen sinnlichen
Reiz und befriedigen das Bedürfniß des Laienpublikums nach kriegerischer
Darstellung und Verherrlichung der Heldenhaftigkeit durch Schilderung von
Kämpfen und Schlachten ritterlicher Helden, die sie mit Geschick in ihre frommen
Erzählungen einzuweben wissen. Die Spielleute andrerseits stecken jetzt die be¬
liebten Helden altgermanischer Sage in das heilige Gewand eines Kreuzritters,


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[0227] populäre Unterhaltungsliteratur des zwölften Jahrhunderts. Von A. Leonhard. I. Die poetische Literatur des zwölften Jahrhunderts durchzieht ein schroffer Gegensatz der Gefiihlsweise: der zwischen heiterer Weltfreude und himmelan¬ strebender Weltflucht. Beide befehden einander in heftiger Polemik und kon- kurriren stetig um die Gunst des Publikums. Die Kleriker behandeln mora¬ lische Gegenstände, alt- und neutestamentliche Stoffe und Legenden, schreibe!? Satireu gegen die Weltlichkeit und den Lebensgenuß, gegen die Mode und den Putz, gegen die Freude an Gastereien, Jagden und schönen Frauen; sie suchen die Herzen der Zuhörer für die Seligkeit des Jenseits zu bereiten. Alle Freude und Lust dieser Welt, Macht, Ruhm und Ehre, Mäunerschlachteu und ritter¬ liches Leben verherrlichen dagegen die fahrenden Spielleute; sie erscheinen bei allen Festlichkeiten, bei Gastmählern und Hochzeiten, auf dem Markte vor dem Volke und an den Höfen der Edlen und sorgen durch Tanz- nud Liebeslyrik, durch Gesang von tapferen Helden, von ihren Kämpfen und ihrem fröhlichen Sinnenleben für die Ergötzung der Anwesenden und die Erhöhung der Fest¬ stimmung. Gar oft locken sie aus der Kirche, wo der Priester Demuth und Entsagung predigt und gegen übermäßige Vergnügungssucht und ausgelassene Sinnenfreude seiue mahnende Stimme erhebt, das begehrliche, lebensfrohe Volk herbei zum Vortrage ihrer weltlichen Mären. Doch überall, wo Gegensätze sich bekämpfen, finden wir, daß sie im Ver¬ laufe des Kampfes sich einander nähern und Berührungspunkte finden. Den¬ selben Vorgang sehen wir anch in der Literatur des zwölften Jahrhunderts sich vollziehen. In einzelnen deutschen Gauen, besonders in Baiern und in den rheinischen Gegenden, wo das Publikum von beiden Seiten, von den Geistlichen wie von den Vertretern der volksthümlichen Dichtung mit besonderem Eifer umworben wird, tritt um die Mitte des Jahrhunderts auf literarischem Gebiete eine interessante An- und Ausgleichung des Geistlichen und Weltlichen ein. Die Geistlichen verleihen ihren religiösen Stoffen einen gewissen sinnlichen Reiz und befriedigen das Bedürfniß des Laienpublikums nach kriegerischer Darstellung und Verherrlichung der Heldenhaftigkeit durch Schilderung von Kämpfen und Schlachten ritterlicher Helden, die sie mit Geschick in ihre frommen Erzählungen einzuweben wissen. Die Spielleute andrerseits stecken jetzt die be¬ liebten Helden altgermanischer Sage in das heilige Gewand eines Kreuzritters,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/227>, abgerufen am 04.05.2024.