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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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I. Karms' Psychologie.

Es gibt wissenschaftliche Leistungen, deren Werth nicht blos in der sorg-
fältigen Erforschung des einschlagenden Materials oder in der Fülle neuer, an¬
regender Gedanken liegt, sondern zugleich in der sittlichen Kraft, mit welcher
sie für gewisse bestrittene Wahrheiten eintreten. Solche Schriften belehren eben
so wie sie stärken. Es geht von ihnen eine Einwirkung auf die Gesinnung aus

F. Harms' Psychologie, der erste Theil seines Werkes: "Die Philosophie
in ihrer Geschichte", zählen wir dahin und glauben uns deshalb berechtigt, ein¬
gehender mit demselben bekannt zu machen.*)

Vergegenwärtigen wir uns zuerst die Aufgabe, welche der Verfasser sich
gestellt hat. Er will uns nicht eine Geschichte der Philosophie geben, sondern
die Philosophie in ihrer Geschichte darstellen, d. h. ihm kommt es in erster
Linie nicht darauf an, die geschichtlichen Bedingungen aufzuweisen, an welche
die Entstehung, die Aufeinanderfolge, die Richtung der philosophischen Systeme
geknüpft ist, sondern vielmehr darauf, die letzteren nach ihrem Werth oder Un¬
werth zu beurtheilen, den Beitrag festzustellen, den die philosophische Erkennt¬
niß ihnen dankt, die bleibende Bedeutung zu bestimmen, auf welche sie An¬
spruch haben.

Den historisch-kritischen Untersuchungen geht eine umfangreiche Einleitung
voran, welche die philosophische Stellung des Verfassers klar legt. Sie han¬
delt zuerst von dem Begriff der Philosophie, die er als die Wissenschaft von
den Grundbegriffen und den objektiven Voraussetzungen der einzelnen Wissen¬
schaften bezeichnet, wie Trendelenburg und Zeller; sodann faßt sie die Ein¬
teilung der Philosophie in's Auge. Die Architektonik nach dem Unterschied
zwischen theoretischen und praktischen Wissenschaften, wie sie Aristoteles be¬
gründet hat, verwirft Harms ebenso wie die Organisation Herbart's nach dem
Gegensatz von Metaphysik und Aesthetik und die Eintheilung Hegel's in Natur-



*) Berlin. Theobald Grieben (Bd. 18 der Bibliothek für Wissenschaft und Literatur
Philosophische Abtheilung. Bd. 3. 1. Hälfte).
Grenzboten IV. 1878. 21
I. Karms' Psychologie.

Es gibt wissenschaftliche Leistungen, deren Werth nicht blos in der sorg-
fältigen Erforschung des einschlagenden Materials oder in der Fülle neuer, an¬
regender Gedanken liegt, sondern zugleich in der sittlichen Kraft, mit welcher
sie für gewisse bestrittene Wahrheiten eintreten. Solche Schriften belehren eben
so wie sie stärken. Es geht von ihnen eine Einwirkung auf die Gesinnung aus

F. Harms' Psychologie, der erste Theil seines Werkes: „Die Philosophie
in ihrer Geschichte", zählen wir dahin und glauben uns deshalb berechtigt, ein¬
gehender mit demselben bekannt zu machen.*)

Vergegenwärtigen wir uns zuerst die Aufgabe, welche der Verfasser sich
gestellt hat. Er will uns nicht eine Geschichte der Philosophie geben, sondern
die Philosophie in ihrer Geschichte darstellen, d. h. ihm kommt es in erster
Linie nicht darauf an, die geschichtlichen Bedingungen aufzuweisen, an welche
die Entstehung, die Aufeinanderfolge, die Richtung der philosophischen Systeme
geknüpft ist, sondern vielmehr darauf, die letzteren nach ihrem Werth oder Un¬
werth zu beurtheilen, den Beitrag festzustellen, den die philosophische Erkennt¬
niß ihnen dankt, die bleibende Bedeutung zu bestimmen, auf welche sie An¬
spruch haben.

Den historisch-kritischen Untersuchungen geht eine umfangreiche Einleitung
voran, welche die philosophische Stellung des Verfassers klar legt. Sie han¬
delt zuerst von dem Begriff der Philosophie, die er als die Wissenschaft von
den Grundbegriffen und den objektiven Voraussetzungen der einzelnen Wissen¬
schaften bezeichnet, wie Trendelenburg und Zeller; sodann faßt sie die Ein¬
teilung der Philosophie in's Auge. Die Architektonik nach dem Unterschied
zwischen theoretischen und praktischen Wissenschaften, wie sie Aristoteles be¬
gründet hat, verwirft Harms ebenso wie die Organisation Herbart's nach dem
Gegensatz von Metaphysik und Aesthetik und die Eintheilung Hegel's in Natur-



*) Berlin. Theobald Grieben (Bd. 18 der Bibliothek für Wissenschaft und Literatur
Philosophische Abtheilung. Bd. 3. 1. Hälfte).
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[0165] I. Karms' Psychologie. Es gibt wissenschaftliche Leistungen, deren Werth nicht blos in der sorg- fältigen Erforschung des einschlagenden Materials oder in der Fülle neuer, an¬ regender Gedanken liegt, sondern zugleich in der sittlichen Kraft, mit welcher sie für gewisse bestrittene Wahrheiten eintreten. Solche Schriften belehren eben so wie sie stärken. Es geht von ihnen eine Einwirkung auf die Gesinnung aus F. Harms' Psychologie, der erste Theil seines Werkes: „Die Philosophie in ihrer Geschichte", zählen wir dahin und glauben uns deshalb berechtigt, ein¬ gehender mit demselben bekannt zu machen.*) Vergegenwärtigen wir uns zuerst die Aufgabe, welche der Verfasser sich gestellt hat. Er will uns nicht eine Geschichte der Philosophie geben, sondern die Philosophie in ihrer Geschichte darstellen, d. h. ihm kommt es in erster Linie nicht darauf an, die geschichtlichen Bedingungen aufzuweisen, an welche die Entstehung, die Aufeinanderfolge, die Richtung der philosophischen Systeme geknüpft ist, sondern vielmehr darauf, die letzteren nach ihrem Werth oder Un¬ werth zu beurtheilen, den Beitrag festzustellen, den die philosophische Erkennt¬ niß ihnen dankt, die bleibende Bedeutung zu bestimmen, auf welche sie An¬ spruch haben. Den historisch-kritischen Untersuchungen geht eine umfangreiche Einleitung voran, welche die philosophische Stellung des Verfassers klar legt. Sie han¬ delt zuerst von dem Begriff der Philosophie, die er als die Wissenschaft von den Grundbegriffen und den objektiven Voraussetzungen der einzelnen Wissen¬ schaften bezeichnet, wie Trendelenburg und Zeller; sodann faßt sie die Ein¬ teilung der Philosophie in's Auge. Die Architektonik nach dem Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Wissenschaften, wie sie Aristoteles be¬ gründet hat, verwirft Harms ebenso wie die Organisation Herbart's nach dem Gegensatz von Metaphysik und Aesthetik und die Eintheilung Hegel's in Natur- *) Berlin. Theobald Grieben (Bd. 18 der Bibliothek für Wissenschaft und Literatur Philosophische Abtheilung. Bd. 3. 1. Hälfte). Grenzboten IV. 1878. 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/165>, abgerufen am 29.04.2024.