Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

welchem die finnischen Zauberlieder herstammten, wie sie in der Kalewala sich
finden, mit andern Worten, daß ihr Ursprung in eine Zeit fällt, wo Babylonien
und Chaldäa von "Turaniern", mit den Ostjaken und andern Malscher
Stämmen naheverwandter Völkerschaften, bewohnt waren, oder sagen wir
lieber bewohnt gewesen wären. Man sehe sich die Beweisführung des Buches
und seine Resultate an, man wird vielem Interessanten begegnen, aber ver¬
muthlich auch das oben über das Verfahren des Verfassers ausgesprochene
Urtheil bestätigt finden.


Graf Franz zu Erbach-Erbach. Ein Lebens- und Kulturbild aus dem Ende des
18. und dem Anfange des 19. Jahrhunderts von L. Ferdinand Dieffenbcich. Mit
dem Porträt des Grafen. Darmstadt, Literansch-artistische Anstalt, 1879.

In der Geschichte wird es nicht viele so interessante Epochen geben, wie
die Jahrzehnte kurz vor und kurz nach Beginn des gegenwärtigen Jahrhun¬
derts. schroff standen sich die Gegensätze gegenüber. Auf der einen Seite
wissenschaftlicher Rückschritt, auf der andern jäher Uebergang zu neuen Lehren,
krasser Aberglaube neben absolutem Unglauben, leutselige, aufgeklärte Herrscher
neben wüsten Despoten, Joseph II. neben Karl Engen von Württemberg,
Pastor Götze neben Lessing, Cagliostro und Se. Germain neben Voltaire und
Rousseau. In diese Zeit der Gährung und Scheidung, in der sich die neue
Welt von der alten losrang, wurde der Mann geboren, von dem uns hier
erzählt lvird. Es ist ein mediatisirter kleiner Souverän, der für die Kultur-
und Kunstgeschichte eine Bedeutung hat, welche bisher von unserer Literatur
nicht hinreichend gewürdigt worden ist. Zu der hohen Bildung, deren sich die
deutsche Nation heutzutage erfreut, hat neben den Universitäten wesentlich die
große Anzahl kleiner unabhängiger Gemeinwesen beigetragen, in die Deutsch¬
land ehedem zerfiel; nur diese vielen Fürsten- und Grafenhöfe, Abteien und
Klöster ermöglichten es, daß die Bildung, deren wir uns erfreuen, alle Gegenden
und alle Bevölkerungsschichten bei uns fast gleichmäßig durchdrang, und daß
es dabei nicht zu einseitiger Geistesentwickelung kam. Stets neu sich gestaltend,
macht der deutsche Genius im Laufe der Jahrhunderte die merkwürdigsten
Metamorphosen durch, und wenn seine Produktionskraft ermattet, kräftigt und
verjüngt er sich durch Hinabtauchen in die Welt des Alterthums. In der Ver¬
mählung Faust's mit Helena hat Goethe uns diesen Vorgang im Leben unserer
Nation, diese Verschmelzung der Romantik mit der Antike symbolisch dargestellt.
Hier, in unserer Schrift, sehen wir, wie dieselbe sich in der Seele eines edeln
Mannes, in einem bescheidenen Städtchen Süddeutschland's, an einem kleinen
Grafenhofe vollzog, wie sie auch hier zur geistigen Wiedergeburt unseres
Volkes beitrug, und wie sie für ganze Generationen zu einer Fülle von An-


welchem die finnischen Zauberlieder herstammten, wie sie in der Kalewala sich
finden, mit andern Worten, daß ihr Ursprung in eine Zeit fällt, wo Babylonien
und Chaldäa von „Turaniern", mit den Ostjaken und andern Malscher
Stämmen naheverwandter Völkerschaften, bewohnt waren, oder sagen wir
lieber bewohnt gewesen wären. Man sehe sich die Beweisführung des Buches
und seine Resultate an, man wird vielem Interessanten begegnen, aber ver¬
muthlich auch das oben über das Verfahren des Verfassers ausgesprochene
Urtheil bestätigt finden.


Graf Franz zu Erbach-Erbach. Ein Lebens- und Kulturbild aus dem Ende des
18. und dem Anfange des 19. Jahrhunderts von L. Ferdinand Dieffenbcich. Mit
dem Porträt des Grafen. Darmstadt, Literansch-artistische Anstalt, 1879.

In der Geschichte wird es nicht viele so interessante Epochen geben, wie
die Jahrzehnte kurz vor und kurz nach Beginn des gegenwärtigen Jahrhun¬
derts. schroff standen sich die Gegensätze gegenüber. Auf der einen Seite
wissenschaftlicher Rückschritt, auf der andern jäher Uebergang zu neuen Lehren,
krasser Aberglaube neben absolutem Unglauben, leutselige, aufgeklärte Herrscher
neben wüsten Despoten, Joseph II. neben Karl Engen von Württemberg,
Pastor Götze neben Lessing, Cagliostro und Se. Germain neben Voltaire und
Rousseau. In diese Zeit der Gährung und Scheidung, in der sich die neue
Welt von der alten losrang, wurde der Mann geboren, von dem uns hier
erzählt lvird. Es ist ein mediatisirter kleiner Souverän, der für die Kultur-
und Kunstgeschichte eine Bedeutung hat, welche bisher von unserer Literatur
nicht hinreichend gewürdigt worden ist. Zu der hohen Bildung, deren sich die
deutsche Nation heutzutage erfreut, hat neben den Universitäten wesentlich die
große Anzahl kleiner unabhängiger Gemeinwesen beigetragen, in die Deutsch¬
land ehedem zerfiel; nur diese vielen Fürsten- und Grafenhöfe, Abteien und
Klöster ermöglichten es, daß die Bildung, deren wir uns erfreuen, alle Gegenden
und alle Bevölkerungsschichten bei uns fast gleichmäßig durchdrang, und daß
es dabei nicht zu einseitiger Geistesentwickelung kam. Stets neu sich gestaltend,
macht der deutsche Genius im Laufe der Jahrhunderte die merkwürdigsten
Metamorphosen durch, und wenn seine Produktionskraft ermattet, kräftigt und
verjüngt er sich durch Hinabtauchen in die Welt des Alterthums. In der Ver¬
mählung Faust's mit Helena hat Goethe uns diesen Vorgang im Leben unserer
Nation, diese Verschmelzung der Romantik mit der Antike symbolisch dargestellt.
Hier, in unserer Schrift, sehen wir, wie dieselbe sich in der Seele eines edeln
Mannes, in einem bescheidenen Städtchen Süddeutschland's, an einem kleinen
Grafenhofe vollzog, wie sie auch hier zur geistigen Wiedergeburt unseres
Volkes beitrug, und wie sie für ganze Generationen zu einer Fülle von An-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0167" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141578"/>
            <p xml:id="ID_496" prev="#ID_495"> welchem die finnischen Zauberlieder herstammten, wie sie in der Kalewala sich<lb/>
finden, mit andern Worten, daß ihr Ursprung in eine Zeit fällt, wo Babylonien<lb/>
und Chaldäa von &#x201E;Turaniern", mit den Ostjaken und andern Malscher<lb/>
Stämmen naheverwandter Völkerschaften, bewohnt waren, oder sagen wir<lb/>
lieber bewohnt gewesen wären. Man sehe sich die Beweisführung des Buches<lb/>
und seine Resultate an, man wird vielem Interessanten begegnen, aber ver¬<lb/>
muthlich auch das oben über das Verfahren des Verfassers ausgesprochene<lb/>
Urtheil bestätigt finden.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Graf Franz zu Erbach-Erbach.  Ein Lebens- und Kulturbild aus dem Ende des<lb/>
18. und dem Anfange des 19. Jahrhunderts von L. Ferdinand Dieffenbcich. Mit<lb/>
dem Porträt des Grafen.  Darmstadt, Literansch-artistische Anstalt, 1879.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_497" next="#ID_498"> In der Geschichte wird es nicht viele so interessante Epochen geben, wie<lb/>
die Jahrzehnte kurz vor und kurz nach Beginn des gegenwärtigen Jahrhun¬<lb/>
derts. schroff standen sich die Gegensätze gegenüber. Auf der einen Seite<lb/>
wissenschaftlicher Rückschritt, auf der andern jäher Uebergang zu neuen Lehren,<lb/>
krasser Aberglaube neben absolutem Unglauben, leutselige, aufgeklärte Herrscher<lb/>
neben wüsten Despoten, Joseph II. neben Karl Engen von Württemberg,<lb/>
Pastor Götze neben Lessing, Cagliostro und Se. Germain neben Voltaire und<lb/>
Rousseau. In diese Zeit der Gährung und Scheidung, in der sich die neue<lb/>
Welt von der alten losrang, wurde der Mann geboren, von dem uns hier<lb/>
erzählt lvird. Es ist ein mediatisirter kleiner Souverän, der für die Kultur-<lb/>
und Kunstgeschichte eine Bedeutung hat, welche bisher von unserer Literatur<lb/>
nicht hinreichend gewürdigt worden ist. Zu der hohen Bildung, deren sich die<lb/>
deutsche Nation heutzutage erfreut, hat neben den Universitäten wesentlich die<lb/>
große Anzahl kleiner unabhängiger Gemeinwesen beigetragen, in die Deutsch¬<lb/>
land ehedem zerfiel; nur diese vielen Fürsten- und Grafenhöfe, Abteien und<lb/>
Klöster ermöglichten es, daß die Bildung, deren wir uns erfreuen, alle Gegenden<lb/>
und alle Bevölkerungsschichten bei uns fast gleichmäßig durchdrang, und daß<lb/>
es dabei nicht zu einseitiger Geistesentwickelung kam. Stets neu sich gestaltend,<lb/>
macht der deutsche Genius im Laufe der Jahrhunderte die merkwürdigsten<lb/>
Metamorphosen durch, und wenn seine Produktionskraft ermattet, kräftigt und<lb/>
verjüngt er sich durch Hinabtauchen in die Welt des Alterthums. In der Ver¬<lb/>
mählung Faust's mit Helena hat Goethe uns diesen Vorgang im Leben unserer<lb/>
Nation, diese Verschmelzung der Romantik mit der Antike symbolisch dargestellt.<lb/>
Hier, in unserer Schrift, sehen wir, wie dieselbe sich in der Seele eines edeln<lb/>
Mannes, in einem bescheidenen Städtchen Süddeutschland's, an einem kleinen<lb/>
Grafenhofe vollzog, wie sie auch hier zur geistigen Wiedergeburt unseres<lb/>
Volkes beitrug, und wie sie für ganze Generationen zu einer Fülle von An-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0167] welchem die finnischen Zauberlieder herstammten, wie sie in der Kalewala sich finden, mit andern Worten, daß ihr Ursprung in eine Zeit fällt, wo Babylonien und Chaldäa von „Turaniern", mit den Ostjaken und andern Malscher Stämmen naheverwandter Völkerschaften, bewohnt waren, oder sagen wir lieber bewohnt gewesen wären. Man sehe sich die Beweisführung des Buches und seine Resultate an, man wird vielem Interessanten begegnen, aber ver¬ muthlich auch das oben über das Verfahren des Verfassers ausgesprochene Urtheil bestätigt finden. Graf Franz zu Erbach-Erbach. Ein Lebens- und Kulturbild aus dem Ende des 18. und dem Anfange des 19. Jahrhunderts von L. Ferdinand Dieffenbcich. Mit dem Porträt des Grafen. Darmstadt, Literansch-artistische Anstalt, 1879. In der Geschichte wird es nicht viele so interessante Epochen geben, wie die Jahrzehnte kurz vor und kurz nach Beginn des gegenwärtigen Jahrhun¬ derts. schroff standen sich die Gegensätze gegenüber. Auf der einen Seite wissenschaftlicher Rückschritt, auf der andern jäher Uebergang zu neuen Lehren, krasser Aberglaube neben absolutem Unglauben, leutselige, aufgeklärte Herrscher neben wüsten Despoten, Joseph II. neben Karl Engen von Württemberg, Pastor Götze neben Lessing, Cagliostro und Se. Germain neben Voltaire und Rousseau. In diese Zeit der Gährung und Scheidung, in der sich die neue Welt von der alten losrang, wurde der Mann geboren, von dem uns hier erzählt lvird. Es ist ein mediatisirter kleiner Souverän, der für die Kultur- und Kunstgeschichte eine Bedeutung hat, welche bisher von unserer Literatur nicht hinreichend gewürdigt worden ist. Zu der hohen Bildung, deren sich die deutsche Nation heutzutage erfreut, hat neben den Universitäten wesentlich die große Anzahl kleiner unabhängiger Gemeinwesen beigetragen, in die Deutsch¬ land ehedem zerfiel; nur diese vielen Fürsten- und Grafenhöfe, Abteien und Klöster ermöglichten es, daß die Bildung, deren wir uns erfreuen, alle Gegenden und alle Bevölkerungsschichten bei uns fast gleichmäßig durchdrang, und daß es dabei nicht zu einseitiger Geistesentwickelung kam. Stets neu sich gestaltend, macht der deutsche Genius im Laufe der Jahrhunderte die merkwürdigsten Metamorphosen durch, und wenn seine Produktionskraft ermattet, kräftigt und verjüngt er sich durch Hinabtauchen in die Welt des Alterthums. In der Ver¬ mählung Faust's mit Helena hat Goethe uns diesen Vorgang im Leben unserer Nation, diese Verschmelzung der Romantik mit der Antike symbolisch dargestellt. Hier, in unserer Schrift, sehen wir, wie dieselbe sich in der Seele eines edeln Mannes, in einem bescheidenen Städtchen Süddeutschland's, an einem kleinen Grafenhofe vollzog, wie sie auch hier zur geistigen Wiedergeburt unseres Volkes beitrug, und wie sie für ganze Generationen zu einer Fülle von An-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/167
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/167>, abgerufen am 06.05.2024.