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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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für die Zukunft. Nur ein Thor könnte erwarten, Trauben von den Dornen zu
lesen; die heutige Generation kann nicht besser sein, als sie ist.

Auch bei den Schwurgerichten kann es Niemand überraschen, daß hier zu-
uüchst juristische und faktische Ungeheuerlichkeiten hervortreten, daß gewissenlose
Beamte nun erst recht der Themis eine Nase drehen und sich dann höhnisch in's
Fäustchen lachen. Das schadet nicht viel, ihre Tage sind gezählt, und selbst
reaktionäre Anwandlungen des Kaisers können da nur kurzen Aufenthalt ver¬
ursachen. Der große Schritt ist einmal gethan: Öffentlichkeit, Mündlichkeit
und Gleichheit vor dem Gesetze sind proklamirt. Richter und Polizist sind ge¬
trennt, und das Selfgovernment im Achtzig-Millionen-Reiche ist angebahnt.
Das ist die Hauptsache, welche alle anderen mit sich fortreißt. Mögen Vera
Sassulitsch und andere Mörder freigesprochen werden, in 50 Jahren wird es
wesentlich anders mit der Rechtspflege und dem Richterstande in Rußland
stehen. Wie sah es heute vor 50 Jahren in Rußland, Oesterreich, Frank¬
reich, Italien -- Deutschland mit dem Rechtsverfahren aus?




Verfassung und Gottesdienst in den Anfängen der
christlichen Kirche.

Die Geistigkeit und Freiheit des Christenthums zeigt sich in der Mannich-
faltigkeit der Gestalten, in denen es, dem Wechsel der geschichtlichen Verhältnisse
entsprechend, an Ort und Zeit sich anpassend, sein inneres Wesen äußert und
darstellt. Es gibt keinen Kultus, keine Verfassung, an welche es gebunden
wäre, in die ausschließlich die Fülle seines Inhalts sich hineinlegen könnte.

Der Stifter der christlichen Religion hat keine Verordnung getroffen, die
sich auf den Kultus bezieht, keine Bestimmung gegeben, die der Verfassung,,
seiner Gemeinde gilt. Er hat ein Mahl gefeiert, das er zum Träger der Ver¬
bindung der Seinen mit sich geweiht hat, aber daß dasselbe gottesdienstlich
begangen werden solle, hat er nicht geboten; auch der Taufbefehl ist von ihm
ausgegangen, aber nicht als Grundlage einer gottesdienstlichen Feier, wiesehr
es auch der Bedeutung beider gemäß ist, daß ein Kultus sich an sie geschlossen
hat. In seiner Persönlichkeit, seinem Wirken, seinem Zeugniß, seinem Lebens¬
inhalt und seiner Lebensentfaltimg sollten die Seinen den Grund, den Maßstab


für die Zukunft. Nur ein Thor könnte erwarten, Trauben von den Dornen zu
lesen; die heutige Generation kann nicht besser sein, als sie ist.

Auch bei den Schwurgerichten kann es Niemand überraschen, daß hier zu-
uüchst juristische und faktische Ungeheuerlichkeiten hervortreten, daß gewissenlose
Beamte nun erst recht der Themis eine Nase drehen und sich dann höhnisch in's
Fäustchen lachen. Das schadet nicht viel, ihre Tage sind gezählt, und selbst
reaktionäre Anwandlungen des Kaisers können da nur kurzen Aufenthalt ver¬
ursachen. Der große Schritt ist einmal gethan: Öffentlichkeit, Mündlichkeit
und Gleichheit vor dem Gesetze sind proklamirt. Richter und Polizist sind ge¬
trennt, und das Selfgovernment im Achtzig-Millionen-Reiche ist angebahnt.
Das ist die Hauptsache, welche alle anderen mit sich fortreißt. Mögen Vera
Sassulitsch und andere Mörder freigesprochen werden, in 50 Jahren wird es
wesentlich anders mit der Rechtspflege und dem Richterstande in Rußland
stehen. Wie sah es heute vor 50 Jahren in Rußland, Oesterreich, Frank¬
reich, Italien — Deutschland mit dem Rechtsverfahren aus?




Verfassung und Gottesdienst in den Anfängen der
christlichen Kirche.

Die Geistigkeit und Freiheit des Christenthums zeigt sich in der Mannich-
faltigkeit der Gestalten, in denen es, dem Wechsel der geschichtlichen Verhältnisse
entsprechend, an Ort und Zeit sich anpassend, sein inneres Wesen äußert und
darstellt. Es gibt keinen Kultus, keine Verfassung, an welche es gebunden
wäre, in die ausschließlich die Fülle seines Inhalts sich hineinlegen könnte.

Der Stifter der christlichen Religion hat keine Verordnung getroffen, die
sich auf den Kultus bezieht, keine Bestimmung gegeben, die der Verfassung,,
seiner Gemeinde gilt. Er hat ein Mahl gefeiert, das er zum Träger der Ver¬
bindung der Seinen mit sich geweiht hat, aber daß dasselbe gottesdienstlich
begangen werden solle, hat er nicht geboten; auch der Taufbefehl ist von ihm
ausgegangen, aber nicht als Grundlage einer gottesdienstlichen Feier, wiesehr
es auch der Bedeutung beider gemäß ist, daß ein Kultus sich an sie geschlossen
hat. In seiner Persönlichkeit, seinem Wirken, seinem Zeugniß, seinem Lebens¬
inhalt und seiner Lebensentfaltimg sollten die Seinen den Grund, den Maßstab


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[0385] für die Zukunft. Nur ein Thor könnte erwarten, Trauben von den Dornen zu lesen; die heutige Generation kann nicht besser sein, als sie ist. Auch bei den Schwurgerichten kann es Niemand überraschen, daß hier zu- uüchst juristische und faktische Ungeheuerlichkeiten hervortreten, daß gewissenlose Beamte nun erst recht der Themis eine Nase drehen und sich dann höhnisch in's Fäustchen lachen. Das schadet nicht viel, ihre Tage sind gezählt, und selbst reaktionäre Anwandlungen des Kaisers können da nur kurzen Aufenthalt ver¬ ursachen. Der große Schritt ist einmal gethan: Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Gleichheit vor dem Gesetze sind proklamirt. Richter und Polizist sind ge¬ trennt, und das Selfgovernment im Achtzig-Millionen-Reiche ist angebahnt. Das ist die Hauptsache, welche alle anderen mit sich fortreißt. Mögen Vera Sassulitsch und andere Mörder freigesprochen werden, in 50 Jahren wird es wesentlich anders mit der Rechtspflege und dem Richterstande in Rußland stehen. Wie sah es heute vor 50 Jahren in Rußland, Oesterreich, Frank¬ reich, Italien — Deutschland mit dem Rechtsverfahren aus? Verfassung und Gottesdienst in den Anfängen der christlichen Kirche. Die Geistigkeit und Freiheit des Christenthums zeigt sich in der Mannich- faltigkeit der Gestalten, in denen es, dem Wechsel der geschichtlichen Verhältnisse entsprechend, an Ort und Zeit sich anpassend, sein inneres Wesen äußert und darstellt. Es gibt keinen Kultus, keine Verfassung, an welche es gebunden wäre, in die ausschließlich die Fülle seines Inhalts sich hineinlegen könnte. Der Stifter der christlichen Religion hat keine Verordnung getroffen, die sich auf den Kultus bezieht, keine Bestimmung gegeben, die der Verfassung,, seiner Gemeinde gilt. Er hat ein Mahl gefeiert, das er zum Träger der Ver¬ bindung der Seinen mit sich geweiht hat, aber daß dasselbe gottesdienstlich begangen werden solle, hat er nicht geboten; auch der Taufbefehl ist von ihm ausgegangen, aber nicht als Grundlage einer gottesdienstlichen Feier, wiesehr es auch der Bedeutung beider gemäß ist, daß ein Kultus sich an sie geschlossen hat. In seiner Persönlichkeit, seinem Wirken, seinem Zeugniß, seinem Lebens¬ inhalt und seiner Lebensentfaltimg sollten die Seinen den Grund, den Maßstab

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/385>, abgerufen am 07.05.2024.