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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Aas gegenwärtige Stadium der Lisenbahnfrage.

Die deutschen Eisenbahnen in ihrer Gesammtheit boten früher und bieten
zum Theil noch heute ein buntes Bild von Systemen und Systemlosigkeit dar:
hier Staatsbahn, dort Privatbahn, hier eine Mischung von beiden Systemen,
dort ein stetes Schwanken von einem zum andern. Eine derartige Verwirrung
kann nicht von dauerndem Bestände sein; sie muß ihr Ende erreiche"
und einer einheitlich geordneten Verfassung Platz macheu, sobald der Ausbau
des Eisenbahnnetzes, wenn auch keinen endgiltigen, so doch in gewissem Sinne
einen vorläufigen Abschluß gefunden hat, und der wahre Zweck dieses Verkehrs¬
mittels, die produktiven Kräfte eines Volkes zu beleben und zu organisiren,
sich in seiner ganzen ungeheuren Macht anfängt zu zeigen und zu bewähren.

In diesem Stadium der Entwickelung befindet sich das deutsche Eisenbahn¬
system seit dem gewaltigen Aufschwünge, den es seit der Mitte der sechziger
Jahre genommen hat. Das Bedürfniß nach einer besseren Organisation in der
Verwaltung desselben machte sich deshalb dringend fühlbar. Der erste Schritt,
den man in dieser Richtung versuchte, war das bekannte, vor etwa zwei Jahren
auftretende Reichseisenbahn-Projekt, das darauf abzielte, die Hauptlinien der
deutschen Eisenbahnen in die Verwaltung des Reiches zu bringen. Dies Projekt
scheiterte; es scheiterte an dem Widerwillen der Mittelstaaten, welche darin einen
weiteren, erheblichen Schritt zur Konsolidation des Reiches und ihrer Auflösung
sahen, scheiterte an dem Mangel an Verständniß, welche unsere rein politischen,
wirthschaftlich zick- und steuerlosen Parteien dafür zeigten, scheiterte endlich aus
inneren Gründen, nämlich daran, daß die rein politischen und finanzpolitischen Ge¬
sichtspunkte, nicht die wirthschaftlichen in ihm eine Hauptrolle spielten, und die
letzteren ihr natürliches Gewicht bei der Unfertigst des Reiches nicht voll in die
Wagschaale werfen konnten. Die Ausführung des Projekts ist mittlerweile in noch
weitere Ferne gerückt worden, da die größten Mittelstaaten dafür gesorgt haben,
alle in ihrem Gebiete liegenden Bahnen in ihren Besitz zu bringen, um dadurch
dem Projekte zu jeder Zeit unübersteigliche Schwierigkeiten machen zu können.
Sachsen kaufte mit großer Hast alles an; vor kurzem erst noch ist die letzte Strecke
Privatbahn auf sächsischem Gebiete in den Besitz des Staates übergegangen.

War nun aber auch die Ausführung des Reichseisenbahn-Projektes vor¬
läufig vertagt, so hatte es doch nach einer andern Richtung vorwärts getrieben,
nach der Richtung der Staatsbahnen. Es ist die Ursache geworden, daß jetzt
in Deutschland mehrere Komplexe reiner Staatsbahnen existiren; denn auch
Bayern hat die wenigen Privatbahnen im Osten des Landes erworben, theils
weil es in die Pläne der Regierung paßte, theils weil sich die Bahnen in


Aas gegenwärtige Stadium der Lisenbahnfrage.

Die deutschen Eisenbahnen in ihrer Gesammtheit boten früher und bieten
zum Theil noch heute ein buntes Bild von Systemen und Systemlosigkeit dar:
hier Staatsbahn, dort Privatbahn, hier eine Mischung von beiden Systemen,
dort ein stetes Schwanken von einem zum andern. Eine derartige Verwirrung
kann nicht von dauerndem Bestände sein; sie muß ihr Ende erreiche«
und einer einheitlich geordneten Verfassung Platz macheu, sobald der Ausbau
des Eisenbahnnetzes, wenn auch keinen endgiltigen, so doch in gewissem Sinne
einen vorläufigen Abschluß gefunden hat, und der wahre Zweck dieses Verkehrs¬
mittels, die produktiven Kräfte eines Volkes zu beleben und zu organisiren,
sich in seiner ganzen ungeheuren Macht anfängt zu zeigen und zu bewähren.

In diesem Stadium der Entwickelung befindet sich das deutsche Eisenbahn¬
system seit dem gewaltigen Aufschwünge, den es seit der Mitte der sechziger
Jahre genommen hat. Das Bedürfniß nach einer besseren Organisation in der
Verwaltung desselben machte sich deshalb dringend fühlbar. Der erste Schritt,
den man in dieser Richtung versuchte, war das bekannte, vor etwa zwei Jahren
auftretende Reichseisenbahn-Projekt, das darauf abzielte, die Hauptlinien der
deutschen Eisenbahnen in die Verwaltung des Reiches zu bringen. Dies Projekt
scheiterte; es scheiterte an dem Widerwillen der Mittelstaaten, welche darin einen
weiteren, erheblichen Schritt zur Konsolidation des Reiches und ihrer Auflösung
sahen, scheiterte an dem Mangel an Verständniß, welche unsere rein politischen,
wirthschaftlich zick- und steuerlosen Parteien dafür zeigten, scheiterte endlich aus
inneren Gründen, nämlich daran, daß die rein politischen und finanzpolitischen Ge¬
sichtspunkte, nicht die wirthschaftlichen in ihm eine Hauptrolle spielten, und die
letzteren ihr natürliches Gewicht bei der Unfertigst des Reiches nicht voll in die
Wagschaale werfen konnten. Die Ausführung des Projekts ist mittlerweile in noch
weitere Ferne gerückt worden, da die größten Mittelstaaten dafür gesorgt haben,
alle in ihrem Gebiete liegenden Bahnen in ihren Besitz zu bringen, um dadurch
dem Projekte zu jeder Zeit unübersteigliche Schwierigkeiten machen zu können.
Sachsen kaufte mit großer Hast alles an; vor kurzem erst noch ist die letzte Strecke
Privatbahn auf sächsischem Gebiete in den Besitz des Staates übergegangen.

War nun aber auch die Ausführung des Reichseisenbahn-Projektes vor¬
läufig vertagt, so hatte es doch nach einer andern Richtung vorwärts getrieben,
nach der Richtung der Staatsbahnen. Es ist die Ursache geworden, daß jetzt
in Deutschland mehrere Komplexe reiner Staatsbahnen existiren; denn auch
Bayern hat die wenigen Privatbahnen im Osten des Landes erworben, theils
weil es in die Pläne der Regierung paßte, theils weil sich die Bahnen in


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[0406] Aas gegenwärtige Stadium der Lisenbahnfrage. Die deutschen Eisenbahnen in ihrer Gesammtheit boten früher und bieten zum Theil noch heute ein buntes Bild von Systemen und Systemlosigkeit dar: hier Staatsbahn, dort Privatbahn, hier eine Mischung von beiden Systemen, dort ein stetes Schwanken von einem zum andern. Eine derartige Verwirrung kann nicht von dauerndem Bestände sein; sie muß ihr Ende erreiche« und einer einheitlich geordneten Verfassung Platz macheu, sobald der Ausbau des Eisenbahnnetzes, wenn auch keinen endgiltigen, so doch in gewissem Sinne einen vorläufigen Abschluß gefunden hat, und der wahre Zweck dieses Verkehrs¬ mittels, die produktiven Kräfte eines Volkes zu beleben und zu organisiren, sich in seiner ganzen ungeheuren Macht anfängt zu zeigen und zu bewähren. In diesem Stadium der Entwickelung befindet sich das deutsche Eisenbahn¬ system seit dem gewaltigen Aufschwünge, den es seit der Mitte der sechziger Jahre genommen hat. Das Bedürfniß nach einer besseren Organisation in der Verwaltung desselben machte sich deshalb dringend fühlbar. Der erste Schritt, den man in dieser Richtung versuchte, war das bekannte, vor etwa zwei Jahren auftretende Reichseisenbahn-Projekt, das darauf abzielte, die Hauptlinien der deutschen Eisenbahnen in die Verwaltung des Reiches zu bringen. Dies Projekt scheiterte; es scheiterte an dem Widerwillen der Mittelstaaten, welche darin einen weiteren, erheblichen Schritt zur Konsolidation des Reiches und ihrer Auflösung sahen, scheiterte an dem Mangel an Verständniß, welche unsere rein politischen, wirthschaftlich zick- und steuerlosen Parteien dafür zeigten, scheiterte endlich aus inneren Gründen, nämlich daran, daß die rein politischen und finanzpolitischen Ge¬ sichtspunkte, nicht die wirthschaftlichen in ihm eine Hauptrolle spielten, und die letzteren ihr natürliches Gewicht bei der Unfertigst des Reiches nicht voll in die Wagschaale werfen konnten. Die Ausführung des Projekts ist mittlerweile in noch weitere Ferne gerückt worden, da die größten Mittelstaaten dafür gesorgt haben, alle in ihrem Gebiete liegenden Bahnen in ihren Besitz zu bringen, um dadurch dem Projekte zu jeder Zeit unübersteigliche Schwierigkeiten machen zu können. Sachsen kaufte mit großer Hast alles an; vor kurzem erst noch ist die letzte Strecke Privatbahn auf sächsischem Gebiete in den Besitz des Staates übergegangen. War nun aber auch die Ausführung des Reichseisenbahn-Projektes vor¬ läufig vertagt, so hatte es doch nach einer andern Richtung vorwärts getrieben, nach der Richtung der Staatsbahnen. Es ist die Ursache geworden, daß jetzt in Deutschland mehrere Komplexe reiner Staatsbahnen existiren; denn auch Bayern hat die wenigen Privatbahnen im Osten des Landes erworben, theils weil es in die Pläne der Regierung paßte, theils weil sich die Bahnen in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/406>, abgerufen am 06.05.2024.