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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Die Russen der Gegenwart. Von E. C. Grenville-Murray. Deutsch
von H. v. Wobeser. Leipzig, Quandt & Händel, 1878.

Von Anfang bis zu Ende eine Parteischrift, und doch sehr lesenswerth.
Der Verfasser ist ein Engländer, und er gehört der Partei an, welche die
russenseindliche Politik des jetzigen englischen Premierministers mit allen Mitteln
empfiehlt und unterstützt. Er beurtheilt in Folge dessen die gegenwärtigen
politischen und gesellschaftlichen Zustände nach vorgefaßter Meinung, er geißelt
die von ihm beobachteten Mängel und Gebrechen rücksichtsloser als billig, malt
vielfach schwärzer, als die Dinge wirklich sind, und schreibt der russischen
Politik schlimmere Pläne zu, als Unbefangene ihr zutrauen können. Aber,
indem bei ihm die Tendenz ganz offen und unverhüllt hervortritt, indem der
Standpunkt, den er einnimmt, sofort zu erkennen ist, wird das Buch lehrreich:
es zeigt uns deutlich, wie Beaconsfield und seine Partei die Russen ansehen,
und was sie im Großen und Ganzen von ihnen fürchten und gegen sie zu
thun gedenken. England soll den Plänen auf Indien nöthigenfalls mit ge-
waffneter Hand entgegentreten und das Uebrige dem Zersetzungsprozesse über¬
lassen, der nach der Ansicht des Verfassers in Rußland nicht blos begonnen
hat, sondern schon weit fortgeschritten ist. Die andere Seite des Werthes, den
die Schrift hat, ist die, daß ihr Verfasser Gelegenheit gehabt hat, Land und
Leute in Rußland aus eigener Anschauung kennen zu lernen, da er mehrere
Jahre hindurch dort als englischer Generalkonsul angestellt gewesen ist. Er
hat, wie es scheint, mehr Auge für das Trübe und Dunkle gehabt als für das
Helle und Erfreuliche, oder er hat es für gut befunden, Jenes in seiner Dar¬
stellung mehr zu betonen, als die Gerechtigkeit erlaubt, er generalisirt und
übertreibt; aber daß vieles von dem, was er mittheilt, auf Wahrheit beruht,
wird nicht zu leugnen sein. Man kann demnach sein Buch mit Nutzen lesen,
wenn man es mit Vorsicht und mit den nöthigen stillen Milderungen, Zusätzen
und Zweifeln liest.

In den ersten Kapiteln, die auf eine einleitende kurzgefaßte Geschichte
Rußland's, wie sie vom Standpunkte eines Tory aussieht, folgen, schildert die
Schrift die Verhältnisse des Grundbesitzes in Rußland und die unerfreulichen
Folgen, die aus der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Entwickelung des
sogenannten Mir - Systems hervorgegangen sind -- ein Uebergangszustand, der
wie alle Uebergangszustände mit der Zeit besseren Verhältnissen Platz machen
wird. Dann kommt er auf die Korruption zu sprechen, die in allen Kreisen
der russischen Gesellschaft -- sicher nicht in dem Grade, wie er glaubt oder
glauben machen will -- verbreitet ist. Mehr pikant als zutreffend malt er
uns mit sarkastischen Farben die Bestechlichkeit, die im Militär- und Zivil-


Die Russen der Gegenwart. Von E. C. Grenville-Murray. Deutsch
von H. v. Wobeser. Leipzig, Quandt & Händel, 1878.

Von Anfang bis zu Ende eine Parteischrift, und doch sehr lesenswerth.
Der Verfasser ist ein Engländer, und er gehört der Partei an, welche die
russenseindliche Politik des jetzigen englischen Premierministers mit allen Mitteln
empfiehlt und unterstützt. Er beurtheilt in Folge dessen die gegenwärtigen
politischen und gesellschaftlichen Zustände nach vorgefaßter Meinung, er geißelt
die von ihm beobachteten Mängel und Gebrechen rücksichtsloser als billig, malt
vielfach schwärzer, als die Dinge wirklich sind, und schreibt der russischen
Politik schlimmere Pläne zu, als Unbefangene ihr zutrauen können. Aber,
indem bei ihm die Tendenz ganz offen und unverhüllt hervortritt, indem der
Standpunkt, den er einnimmt, sofort zu erkennen ist, wird das Buch lehrreich:
es zeigt uns deutlich, wie Beaconsfield und seine Partei die Russen ansehen,
und was sie im Großen und Ganzen von ihnen fürchten und gegen sie zu
thun gedenken. England soll den Plänen auf Indien nöthigenfalls mit ge-
waffneter Hand entgegentreten und das Uebrige dem Zersetzungsprozesse über¬
lassen, der nach der Ansicht des Verfassers in Rußland nicht blos begonnen
hat, sondern schon weit fortgeschritten ist. Die andere Seite des Werthes, den
die Schrift hat, ist die, daß ihr Verfasser Gelegenheit gehabt hat, Land und
Leute in Rußland aus eigener Anschauung kennen zu lernen, da er mehrere
Jahre hindurch dort als englischer Generalkonsul angestellt gewesen ist. Er
hat, wie es scheint, mehr Auge für das Trübe und Dunkle gehabt als für das
Helle und Erfreuliche, oder er hat es für gut befunden, Jenes in seiner Dar¬
stellung mehr zu betonen, als die Gerechtigkeit erlaubt, er generalisirt und
übertreibt; aber daß vieles von dem, was er mittheilt, auf Wahrheit beruht,
wird nicht zu leugnen sein. Man kann demnach sein Buch mit Nutzen lesen,
wenn man es mit Vorsicht und mit den nöthigen stillen Milderungen, Zusätzen
und Zweifeln liest.

In den ersten Kapiteln, die auf eine einleitende kurzgefaßte Geschichte
Rußland's, wie sie vom Standpunkte eines Tory aussieht, folgen, schildert die
Schrift die Verhältnisse des Grundbesitzes in Rußland und die unerfreulichen
Folgen, die aus der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Entwickelung des
sogenannten Mir - Systems hervorgegangen sind — ein Uebergangszustand, der
wie alle Uebergangszustände mit der Zeit besseren Verhältnissen Platz machen
wird. Dann kommt er auf die Korruption zu sprechen, die in allen Kreisen
der russischen Gesellschaft — sicher nicht in dem Grade, wie er glaubt oder
glauben machen will — verbreitet ist. Mehr pikant als zutreffend malt er
uns mit sarkastischen Farben die Bestechlichkeit, die im Militär- und Zivil-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/122>, abgerufen am 30.04.2024.