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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Jedarf Deutschland der Kolonieen?

Wenn schon seit mehreren Jahren in Deutschland neben den politischen
Fragen auch die wirthschaftlichen mit großer Lebhaftigkeit behandelt wurden,
so stieg das Interesse an denselben noch wesentlich, als das Darniederliegen
von Handel, Gewerbe und Industrie deutlich zu zeigen anfing, daß das Wohl¬
befinden eines Staates durch Entfaltung militärischer Macht und politischen
Einflusses allein nicht aufrecht erhalten werden kann, sondern vor allem auf
jenen anfangs in ihrer Wichtigkeit nicht genug erkannten Faktoren beruht.
Zunächst freilich waren es Klagen und immer nur wieder Klagen über die
"schlechten Zeiten", von denen man hörte und las; ein Vorwurf wechselte mit
dem andern, mit steigender Heftigkeit und Bitterkeit beschuldigten sich gegenseitig
die Parteien, als ob eine einzelne derselben das Sinken unseres wirthschaft¬
lichen Lebens hätte veranlassen können, und nicht vielmehr viele und verschie¬
denartige Ursachen dieses eine, das ganze Land in Mitleidenschaft ziehende
Ergebniß hervorgebracht hätten. Seitdem ist wenigstens der eine nicht zu
unterschätzende Fortschritt gemacht worden, daß das unerquickliche Gezänk und
die schließlich doch unnützen Anklagen einigermaßen zum Schweigen gekommen
und statt dessen Untersuchungen angestellt worden sind, wie den theils schon
vorhandenen, theils noch drohenden Uebelständen abgeholfen werden könne,
welche Mittel zu ergreifen, welche neue Bahnen etwa zu betreten seien. Daß
dabei manch' abenteuerlicher Gedanke aufgetaucht ist, braucht uns nicht Wunder
zu nehmen; auf der anderen Seite zeigte sich auch manches recht beachtens-
werthe. Unter anderm ist seit Wochen ein Schriftchen von Dr. Friedrich Fabri
Gegenstand vielfacher Erörterungen geworden, worin zur Beseitigung der be¬
stehenden Mißstände die Anlegung von Kolonieen angerathen wird.*) Daß dieser
Vorschlag wenn auch nicht überall Beifall gefunden, so doch vielseitiges Inter¬
esse für die Sache hervorgerufen hat, geht schon daraus hervor, daß binnen



*) Bedarf Deutschland der Kolonieen? Eine politisch-ökonomische Betrachtung
von or. Friedrich Fabri. Gotha, F. A. Perthes, 1879.
Grenzboten II. 1379. 22
Jedarf Deutschland der Kolonieen?

Wenn schon seit mehreren Jahren in Deutschland neben den politischen
Fragen auch die wirthschaftlichen mit großer Lebhaftigkeit behandelt wurden,
so stieg das Interesse an denselben noch wesentlich, als das Darniederliegen
von Handel, Gewerbe und Industrie deutlich zu zeigen anfing, daß das Wohl¬
befinden eines Staates durch Entfaltung militärischer Macht und politischen
Einflusses allein nicht aufrecht erhalten werden kann, sondern vor allem auf
jenen anfangs in ihrer Wichtigkeit nicht genug erkannten Faktoren beruht.
Zunächst freilich waren es Klagen und immer nur wieder Klagen über die
»schlechten Zeiten", von denen man hörte und las; ein Vorwurf wechselte mit
dem andern, mit steigender Heftigkeit und Bitterkeit beschuldigten sich gegenseitig
die Parteien, als ob eine einzelne derselben das Sinken unseres wirthschaft¬
lichen Lebens hätte veranlassen können, und nicht vielmehr viele und verschie¬
denartige Ursachen dieses eine, das ganze Land in Mitleidenschaft ziehende
Ergebniß hervorgebracht hätten. Seitdem ist wenigstens der eine nicht zu
unterschätzende Fortschritt gemacht worden, daß das unerquickliche Gezänk und
die schließlich doch unnützen Anklagen einigermaßen zum Schweigen gekommen
und statt dessen Untersuchungen angestellt worden sind, wie den theils schon
vorhandenen, theils noch drohenden Uebelständen abgeholfen werden könne,
welche Mittel zu ergreifen, welche neue Bahnen etwa zu betreten seien. Daß
dabei manch' abenteuerlicher Gedanke aufgetaucht ist, braucht uns nicht Wunder
zu nehmen; auf der anderen Seite zeigte sich auch manches recht beachtens-
werthe. Unter anderm ist seit Wochen ein Schriftchen von Dr. Friedrich Fabri
Gegenstand vielfacher Erörterungen geworden, worin zur Beseitigung der be¬
stehenden Mißstände die Anlegung von Kolonieen angerathen wird.*) Daß dieser
Vorschlag wenn auch nicht überall Beifall gefunden, so doch vielseitiges Inter¬
esse für die Sache hervorgerufen hat, geht schon daraus hervor, daß binnen



*) Bedarf Deutschland der Kolonieen? Eine politisch-ökonomische Betrachtung
von or. Friedrich Fabri. Gotha, F. A. Perthes, 1879.
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[0169] Jedarf Deutschland der Kolonieen? Wenn schon seit mehreren Jahren in Deutschland neben den politischen Fragen auch die wirthschaftlichen mit großer Lebhaftigkeit behandelt wurden, so stieg das Interesse an denselben noch wesentlich, als das Darniederliegen von Handel, Gewerbe und Industrie deutlich zu zeigen anfing, daß das Wohl¬ befinden eines Staates durch Entfaltung militärischer Macht und politischen Einflusses allein nicht aufrecht erhalten werden kann, sondern vor allem auf jenen anfangs in ihrer Wichtigkeit nicht genug erkannten Faktoren beruht. Zunächst freilich waren es Klagen und immer nur wieder Klagen über die »schlechten Zeiten", von denen man hörte und las; ein Vorwurf wechselte mit dem andern, mit steigender Heftigkeit und Bitterkeit beschuldigten sich gegenseitig die Parteien, als ob eine einzelne derselben das Sinken unseres wirthschaft¬ lichen Lebens hätte veranlassen können, und nicht vielmehr viele und verschie¬ denartige Ursachen dieses eine, das ganze Land in Mitleidenschaft ziehende Ergebniß hervorgebracht hätten. Seitdem ist wenigstens der eine nicht zu unterschätzende Fortschritt gemacht worden, daß das unerquickliche Gezänk und die schließlich doch unnützen Anklagen einigermaßen zum Schweigen gekommen und statt dessen Untersuchungen angestellt worden sind, wie den theils schon vorhandenen, theils noch drohenden Uebelständen abgeholfen werden könne, welche Mittel zu ergreifen, welche neue Bahnen etwa zu betreten seien. Daß dabei manch' abenteuerlicher Gedanke aufgetaucht ist, braucht uns nicht Wunder zu nehmen; auf der anderen Seite zeigte sich auch manches recht beachtens- werthe. Unter anderm ist seit Wochen ein Schriftchen von Dr. Friedrich Fabri Gegenstand vielfacher Erörterungen geworden, worin zur Beseitigung der be¬ stehenden Mißstände die Anlegung von Kolonieen angerathen wird.*) Daß dieser Vorschlag wenn auch nicht überall Beifall gefunden, so doch vielseitiges Inter¬ esse für die Sache hervorgerufen hat, geht schon daraus hervor, daß binnen *) Bedarf Deutschland der Kolonieen? Eine politisch-ökonomische Betrachtung von or. Friedrich Fabri. Gotha, F. A. Perthes, 1879. Grenzboten II. 1379. 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/169>, abgerufen am 01.05.2024.