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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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er auf Grund seiner Erfolge als Autokrat von einem fast mystischen Glauben
an seine Staatsmajestät und sein Recht, Frankreich's Interessen mit den seinen
zu identifiziren, beseelt war. Dasselbe ist von der Art und Weise, wie der
Abbe Sieyes bei der Verurtheilung Ludwig's XVI. durch den Konvent abge¬
stimmt haben sollte, zu behaupten: sein Votum, das nach der Ueberlieferung
kurz und rund: "I^s. mort sans pdiAss" lautete, ist Erdichtung, er stimmte
einfach mit Ja.

Es ist wahr, daß mit all' diesen Sagen, Märchen und Anekdoten ein
Theil Poesie aus der Geschichte schwindet, aber die Geschichte soll ihre
Poesie nicht in Unwahrheiten, sondern in klarer, lebensvoller Darstellung der
Wahrheit, in lichten, warmen, plastischen Bildern der Vergangenheit, ihrer
Zustände, Ereignisse und Charaktere suchen. Uebrigens aber werden jene
hübschen Dinge durch ihre Verbannung aus der Geschichte ja keineswegs aus
der Welt hinaus getrieben. Soweit sie schön sind, bleiben sie Stoffe und The¬
mata für die Kunst, den Maler, den Bildhauer, den Dichter. Niemand wird
sich von den herrlichen Bildern Tintoretto's im Dogenpalaste von Venedig,
welche die Niederlage Friedrich Barbarossa's zur See und dessen Demüthigung
vor dem Papste Alexander dem Dritten darstellen, deshalb mit Mißfallen ab¬
wenden, weil sie keine historischen, sondern aus der Phantasie geschöpfte Gemälde
sind. Das Denkmal Winkelried's würde schön bleiben, wenn es auch keinen
Helden dieses Namens gegeben hätte. Wilhelm Tell hat nie gelebt, Don Carlos
war körperlich wie geistig ein Scheusal, Wallenstein dachte anders und handelte
in vielen Beziehungen wesentlich anders, als Schiller ihn denken und handeln
läßt. Aber werden wir uns deshalb von dem Dichter weniger erheben, rühren
und erschüttern lassen, als wenn wir mit dem naiven Glauben der alten Zeit
G an seine Dramen herantreten könnten?






Alle für die Grenzboten bestimmten Zuschriften, Manuskripte ;c. wolle
man in Zukunft an die Verlagsbuchhandlung richten.
(Adresse: Leipzig, Königsstraße 18.)




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. -- Druck von Hüthcl Ä Herrmann in Leipzig.

er auf Grund seiner Erfolge als Autokrat von einem fast mystischen Glauben
an seine Staatsmajestät und sein Recht, Frankreich's Interessen mit den seinen
zu identifiziren, beseelt war. Dasselbe ist von der Art und Weise, wie der
Abbe Sieyes bei der Verurtheilung Ludwig's XVI. durch den Konvent abge¬
stimmt haben sollte, zu behaupten: sein Votum, das nach der Ueberlieferung
kurz und rund: „I^s. mort sans pdiAss" lautete, ist Erdichtung, er stimmte
einfach mit Ja.

Es ist wahr, daß mit all' diesen Sagen, Märchen und Anekdoten ein
Theil Poesie aus der Geschichte schwindet, aber die Geschichte soll ihre
Poesie nicht in Unwahrheiten, sondern in klarer, lebensvoller Darstellung der
Wahrheit, in lichten, warmen, plastischen Bildern der Vergangenheit, ihrer
Zustände, Ereignisse und Charaktere suchen. Uebrigens aber werden jene
hübschen Dinge durch ihre Verbannung aus der Geschichte ja keineswegs aus
der Welt hinaus getrieben. Soweit sie schön sind, bleiben sie Stoffe und The¬
mata für die Kunst, den Maler, den Bildhauer, den Dichter. Niemand wird
sich von den herrlichen Bildern Tintoretto's im Dogenpalaste von Venedig,
welche die Niederlage Friedrich Barbarossa's zur See und dessen Demüthigung
vor dem Papste Alexander dem Dritten darstellen, deshalb mit Mißfallen ab¬
wenden, weil sie keine historischen, sondern aus der Phantasie geschöpfte Gemälde
sind. Das Denkmal Winkelried's würde schön bleiben, wenn es auch keinen
Helden dieses Namens gegeben hätte. Wilhelm Tell hat nie gelebt, Don Carlos
war körperlich wie geistig ein Scheusal, Wallenstein dachte anders und handelte
in vielen Beziehungen wesentlich anders, als Schiller ihn denken und handeln
läßt. Aber werden wir uns deshalb von dem Dichter weniger erheben, rühren
und erschüttern lassen, als wenn wir mit dem naiven Glauben der alten Zeit
G an seine Dramen herantreten könnten?






Alle für die Grenzboten bestimmten Zuschriften, Manuskripte ;c. wolle
man in Zukunft an die Verlagsbuchhandlung richten.
(Adresse: Leipzig, Königsstraße 18.)




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Druck von Hüthcl Ä Herrmann in Leipzig.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/84>, abgerufen am 01.05.2024.