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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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politische Iriefe.
XVII.
Die natürliche Gruppirung deutscher Parteien.

Die Zerrissenheit des deutschen Pcirteilebeus ist ein Gegenstand stehender
Klage. Am meisten klagen die, deren Idol die sogenannte parlamentarische
Regierung ist. Den Vorwurf wegen dieser Zerrissenheit pflegt man in aller
Gemüthsruhe, als ob es sich vou selbst verstände, ans die Masse der Wähler,
d. h. auf die Masse der Nation abzuladen. Natürlich, die Nation ist eine ge¬
duldige Adresse, die nicht leicht erwiedert, anch wenn man ihr die stärksten
Dinge sagt; denn jeder nimmt sich von der Adresse aus. Die Bequemlichkeit
dieses Verkehrs hat aber die Kehrseite, daß er gar nichts fordert. Man kann
auf den Wähler, auf die Deutschen im Allgemeinen schmähen und eine Menge
Einstimmende finden, aber man erreicht nicht die geringste Besserung, gerade
weil sich keiner getroffen fühlt, sondern jeder der Meinung ist, daß alle gemeint
sind, nur er selbst nicht.

Die Klage über die Zerrissenheit des deutschen Parteiwesens ist überdies
eine recht sinnlose, alles Verstandes bare. Jahrzehnte, Jahrhunderte lang in
einem einzigen Gegensatz aufgehen kann entweder ein sehr kleines Gemeinwesen
mit unveränderten Grundelementen, oder die Oligarchie einer großen Nation.
Der Gegensatz in einer solchen Oligarchie gleicht dem Gegensatz zweier großen
Firmen, die alle Konkurrenz beseitigt haben und übereingekommen sind, in der
Benutzung der Herrschaftskonjunkturen sich nach dem wechselnden Charakter
dieser Konjunkturen abzulösen. Wenn aber eine Nation durchaus nicht oligar-
chisch organisirt ist, wenn ihre Vertretung durch das allgemeine Wahlrecht
gebildet wird, wenn alle Klassen am öffentlichen Leben Theil nehmen, wenn
dieselbe Nation ohnedies durch territoriale souveränes, durch konfessionelle
Trennungen, durch große landschaftliche Unterschiede der Erwerbs- und Pro¬
duktionsverhältnisse, durch einen langgehegten, als nationale Lieblingseigenschaft
entwickelten Individualismus des geistigen Lebens, der oft genug in eigen¬
sinnigen Doktrinarismus ausartet, in einem Grade getheilt ist, wie keine zweite
Nation der Welt, da sind die Vorwürfe an die Wähler oder an die Nation
im allgemeinen über ihr zerrissenes Parteileben weiter nichts als eine Albern¬
heit. Wir können über diese Zerrissenheit, deren Uebelstände ja Niemand
leugnen wird, nur hinaus kommen durch ein allmähliches Aneinanderschließen
der Parteigruppen, die wenigstens insoweit verwandt sind, um für ein Haupt-


politische Iriefe.
XVII.
Die natürliche Gruppirung deutscher Parteien.

Die Zerrissenheit des deutschen Pcirteilebeus ist ein Gegenstand stehender
Klage. Am meisten klagen die, deren Idol die sogenannte parlamentarische
Regierung ist. Den Vorwurf wegen dieser Zerrissenheit pflegt man in aller
Gemüthsruhe, als ob es sich vou selbst verstände, ans die Masse der Wähler,
d. h. auf die Masse der Nation abzuladen. Natürlich, die Nation ist eine ge¬
duldige Adresse, die nicht leicht erwiedert, anch wenn man ihr die stärksten
Dinge sagt; denn jeder nimmt sich von der Adresse aus. Die Bequemlichkeit
dieses Verkehrs hat aber die Kehrseite, daß er gar nichts fordert. Man kann
auf den Wähler, auf die Deutschen im Allgemeinen schmähen und eine Menge
Einstimmende finden, aber man erreicht nicht die geringste Besserung, gerade
weil sich keiner getroffen fühlt, sondern jeder der Meinung ist, daß alle gemeint
sind, nur er selbst nicht.

Die Klage über die Zerrissenheit des deutschen Parteiwesens ist überdies
eine recht sinnlose, alles Verstandes bare. Jahrzehnte, Jahrhunderte lang in
einem einzigen Gegensatz aufgehen kann entweder ein sehr kleines Gemeinwesen
mit unveränderten Grundelementen, oder die Oligarchie einer großen Nation.
Der Gegensatz in einer solchen Oligarchie gleicht dem Gegensatz zweier großen
Firmen, die alle Konkurrenz beseitigt haben und übereingekommen sind, in der
Benutzung der Herrschaftskonjunkturen sich nach dem wechselnden Charakter
dieser Konjunkturen abzulösen. Wenn aber eine Nation durchaus nicht oligar-
chisch organisirt ist, wenn ihre Vertretung durch das allgemeine Wahlrecht
gebildet wird, wenn alle Klassen am öffentlichen Leben Theil nehmen, wenn
dieselbe Nation ohnedies durch territoriale souveränes, durch konfessionelle
Trennungen, durch große landschaftliche Unterschiede der Erwerbs- und Pro¬
duktionsverhältnisse, durch einen langgehegten, als nationale Lieblingseigenschaft
entwickelten Individualismus des geistigen Lebens, der oft genug in eigen¬
sinnigen Doktrinarismus ausartet, in einem Grade getheilt ist, wie keine zweite
Nation der Welt, da sind die Vorwürfe an die Wähler oder an die Nation
im allgemeinen über ihr zerrissenes Parteileben weiter nichts als eine Albern¬
heit. Wir können über diese Zerrissenheit, deren Uebelstände ja Niemand
leugnen wird, nur hinaus kommen durch ein allmähliches Aneinanderschließen
der Parteigruppen, die wenigstens insoweit verwandt sind, um für ein Haupt-


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[0206] politische Iriefe. XVII. Die natürliche Gruppirung deutscher Parteien. Die Zerrissenheit des deutschen Pcirteilebeus ist ein Gegenstand stehender Klage. Am meisten klagen die, deren Idol die sogenannte parlamentarische Regierung ist. Den Vorwurf wegen dieser Zerrissenheit pflegt man in aller Gemüthsruhe, als ob es sich vou selbst verstände, ans die Masse der Wähler, d. h. auf die Masse der Nation abzuladen. Natürlich, die Nation ist eine ge¬ duldige Adresse, die nicht leicht erwiedert, anch wenn man ihr die stärksten Dinge sagt; denn jeder nimmt sich von der Adresse aus. Die Bequemlichkeit dieses Verkehrs hat aber die Kehrseite, daß er gar nichts fordert. Man kann auf den Wähler, auf die Deutschen im Allgemeinen schmähen und eine Menge Einstimmende finden, aber man erreicht nicht die geringste Besserung, gerade weil sich keiner getroffen fühlt, sondern jeder der Meinung ist, daß alle gemeint sind, nur er selbst nicht. Die Klage über die Zerrissenheit des deutschen Parteiwesens ist überdies eine recht sinnlose, alles Verstandes bare. Jahrzehnte, Jahrhunderte lang in einem einzigen Gegensatz aufgehen kann entweder ein sehr kleines Gemeinwesen mit unveränderten Grundelementen, oder die Oligarchie einer großen Nation. Der Gegensatz in einer solchen Oligarchie gleicht dem Gegensatz zweier großen Firmen, die alle Konkurrenz beseitigt haben und übereingekommen sind, in der Benutzung der Herrschaftskonjunkturen sich nach dem wechselnden Charakter dieser Konjunkturen abzulösen. Wenn aber eine Nation durchaus nicht oligar- chisch organisirt ist, wenn ihre Vertretung durch das allgemeine Wahlrecht gebildet wird, wenn alle Klassen am öffentlichen Leben Theil nehmen, wenn dieselbe Nation ohnedies durch territoriale souveränes, durch konfessionelle Trennungen, durch große landschaftliche Unterschiede der Erwerbs- und Pro¬ duktionsverhältnisse, durch einen langgehegten, als nationale Lieblingseigenschaft entwickelten Individualismus des geistigen Lebens, der oft genug in eigen¬ sinnigen Doktrinarismus ausartet, in einem Grade getheilt ist, wie keine zweite Nation der Welt, da sind die Vorwürfe an die Wähler oder an die Nation im allgemeinen über ihr zerrissenes Parteileben weiter nichts als eine Albern¬ heit. Wir können über diese Zerrissenheit, deren Uebelstände ja Niemand leugnen wird, nur hinaus kommen durch ein allmähliches Aneinanderschließen der Parteigruppen, die wenigstens insoweit verwandt sind, um für ein Haupt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/206>, abgerufen am 03.05.2024.