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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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sie nach der eben aus "Dichtung und Wahrheit" mitgetheilten Szene ein und
fügt hinzu, daß sie "dadurch veranlaßt" worden seien. Nicht also dabei ent¬
standen , wie man gewöhnlich ohne weiteres annimmt. Löper bemerkt sehr
richtig, daß in jenem Augenblicke der Dichter unmöglich von einem "zerrissenen
Seelenbande" und von "des Gefängnisses Schmach" hätte sprechen können,
nachdem er eben erst auf und am Züricher See seiner Liebe den wärmsten
Ausdruck gegeben. Er meint, da es dem Gedichte an allem schweizer Charakter
fehle, der allen übrigen in der Schweiz entstandenen Gedichten Goethe's, wie der
Elegie "Euphrosyne", dem "Gesang der Geister über den Wassern", unverkennbar
aufgeprägt sei, so werde es wohl erst der Weimarischen Zeit angehören, und
die "fremden Lande und fernen Thäler und Wälder" lägen in Thüringen, nicht
in der Schweiz. Das letztere möchten wir bezweifeln. "Flieh' ich, Lili, vor
dir!" -- so konnte er doch nur mit Bezug auf die Schweizerreise sprechen.
Aber das ist wohl zweifellos, daß das Gedicht uicht auf dem Gotthard selbst,
sondern nur in der Erinnerung an jenen Augenblick -- wer weiß, wie lange
er das goldene Herz auch später noch am Halse trug? -- niedergeschrieben wurde.

So warf er denn den Gedanken, nach Italien hinabzugehen, von sich und
kehrte nach Deutschland zurück. Sehnsüchtig blickte er auf der Rückreise von
der Höhe des Straßburger Münsters "vaterlandswärts, liebwärts", wie er in
seiner "Dritten Wallfahrt nach Erwin's Grabe im Juli 1775" schreibt; Ende
des Monats hatte er das Ziel seiner Sehnsucht wieder erreicht.




Unsere Jannttennamen.

Wenn wir berühmte Namen wie Luther oder Goethe aussprechen, so treten
uns unwillkürlich die Gestalten jeuer Geistesheroen vor die Seele; wir erinnern
uns an die rettende That des großen Reformators, der uns aus den Banden
Rom's befreit hat, wir denken an die Meisterwerke unseres größten Dichters --
daß aber diese Namen auch an sich eine Bedeutung haben, daß Luther soviel
wie Lothar ist und "Ruhmesheer" bedeutet, daß Goethe eine Koseform für Gott¬
fried ist, kommt selten einem in den Sinn. Wir haben uns eben gewöhnt, bei
Eigennamen den Träger des Namens mit dem Namen selbst zu identifiziren,
und bekümmern uns wenig darum, was der Name an sich ursprünglich zu be¬
deuten hat. Und doch ist es nicht uninteressant, einmal den Bedeutungen der
Namen nachzugehen: wir gewinnen dabei manchen lehrreichen Einblick in die


sie nach der eben aus „Dichtung und Wahrheit" mitgetheilten Szene ein und
fügt hinzu, daß sie „dadurch veranlaßt" worden seien. Nicht also dabei ent¬
standen , wie man gewöhnlich ohne weiteres annimmt. Löper bemerkt sehr
richtig, daß in jenem Augenblicke der Dichter unmöglich von einem „zerrissenen
Seelenbande" und von „des Gefängnisses Schmach" hätte sprechen können,
nachdem er eben erst auf und am Züricher See seiner Liebe den wärmsten
Ausdruck gegeben. Er meint, da es dem Gedichte an allem schweizer Charakter
fehle, der allen übrigen in der Schweiz entstandenen Gedichten Goethe's, wie der
Elegie „Euphrosyne", dem „Gesang der Geister über den Wassern", unverkennbar
aufgeprägt sei, so werde es wohl erst der Weimarischen Zeit angehören, und
die „fremden Lande und fernen Thäler und Wälder" lägen in Thüringen, nicht
in der Schweiz. Das letztere möchten wir bezweifeln. „Flieh' ich, Lili, vor
dir!" — so konnte er doch nur mit Bezug auf die Schweizerreise sprechen.
Aber das ist wohl zweifellos, daß das Gedicht uicht auf dem Gotthard selbst,
sondern nur in der Erinnerung an jenen Augenblick — wer weiß, wie lange
er das goldene Herz auch später noch am Halse trug? — niedergeschrieben wurde.

So warf er denn den Gedanken, nach Italien hinabzugehen, von sich und
kehrte nach Deutschland zurück. Sehnsüchtig blickte er auf der Rückreise von
der Höhe des Straßburger Münsters „vaterlandswärts, liebwärts", wie er in
seiner „Dritten Wallfahrt nach Erwin's Grabe im Juli 1775" schreibt; Ende
des Monats hatte er das Ziel seiner Sehnsucht wieder erreicht.




Unsere Jannttennamen.

Wenn wir berühmte Namen wie Luther oder Goethe aussprechen, so treten
uns unwillkürlich die Gestalten jeuer Geistesheroen vor die Seele; wir erinnern
uns an die rettende That des großen Reformators, der uns aus den Banden
Rom's befreit hat, wir denken an die Meisterwerke unseres größten Dichters —
daß aber diese Namen auch an sich eine Bedeutung haben, daß Luther soviel
wie Lothar ist und „Ruhmesheer" bedeutet, daß Goethe eine Koseform für Gott¬
fried ist, kommt selten einem in den Sinn. Wir haben uns eben gewöhnt, bei
Eigennamen den Träger des Namens mit dem Namen selbst zu identifiziren,
und bekümmern uns wenig darum, was der Name an sich ursprünglich zu be¬
deuten hat. Und doch ist es nicht uninteressant, einmal den Bedeutungen der
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/328>, abgerufen am 03.05.2024.