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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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auf den Einfluß Luthers zurückzuführen haben, mit dem er in lebhaftem Brief¬
wechsel stand; daß dieser ihn in die Paulinischen und Augustinischen Studien,
denen er selbst oblag, mit hineingezogen hatte?

Stanpitz ist je länger je mehr dem Standpunkte Luthers nahe gekommen,
besonders in der Werthschätzung des Glaubens. Der Zug einer mystischen
Kontemplation, die, spiritualistisch geartet, äußeres Sein und äußeres Thun
gering achtet, ist seinen späteren Schriften eigen. Was ihn von der Sache
Luthers fern hielt, war seine Scheu vor dem Sturm, vor der gewaltigen Um¬
wälzung, die von der Wirksamkeit des großen Mannes ausging. Sie wider¬
sprach den innersten Neigungen seiner Natur, besonders berührte ihn peinlich
der Zusammenbruch des Klosterlebens, das, wie evangelisch er auch über das¬
selbe dachte, doch durch die zartesten Beziehungen mit seinen Anschauungen
verknüpft war. Luthers unmittelbar religiösem Ideenkreise widmete er die
wärmste und lebhafteste Sympathie, aber die praktische Ausgestaltung desselben
im kirchlichen Leben stieß ihn zurück. Er wollte den neuen Geist mit den alten
Formen versöhnen; er lehnte es ab, an der Erzeugung neuer Formen für ihn
mitzuwirken.

Unsre Frage also: Hat die Mystik die Reformation angebahnt? können
wir weder mit einem unbedingten Ja noch mit einem unbedingten Nein beant¬
worten. Die Mystik hat über die Gedankengänge, welchen die mittelalterliche
Kirche Raum gewährte, nicht oder doch nur in sehr beschränktem Maße hinaus¬
geführt, aber sie hat den Boden bereitet, in welchen das Samenkorn des Prote¬
stantismus eingesenkt werden konnte.") Dieser selbst aber ist nur aus dem
Heilsbewußtsein der Reformatoren, in erster Linie Luthers, zu begreifen, aus
dem Inhalte und der Kraft desselben.

(Schluß folgt.)


H. Jacoby.


Hoethefrevel.

Unterm 5. September berichtete die "Neue Freie Presse" aus Wien folgendes:
"Heute Vormittag wurde in Rofners Buchhandlung das daselbst in Separat¬
ausgabe erschienene Gedicht Goethes: ,Das Tagebuch- im Auftrage der Staats¬
anwaltschaft mit Beschlag belegt. Als man dem konfiszirenden Beamten erklärte,



") Ugt. des Verfassers Liturgik d. Res. Bd. I, S. 140--41. Gothn, 1871.

auf den Einfluß Luthers zurückzuführen haben, mit dem er in lebhaftem Brief¬
wechsel stand; daß dieser ihn in die Paulinischen und Augustinischen Studien,
denen er selbst oblag, mit hineingezogen hatte?

Stanpitz ist je länger je mehr dem Standpunkte Luthers nahe gekommen,
besonders in der Werthschätzung des Glaubens. Der Zug einer mystischen
Kontemplation, die, spiritualistisch geartet, äußeres Sein und äußeres Thun
gering achtet, ist seinen späteren Schriften eigen. Was ihn von der Sache
Luthers fern hielt, war seine Scheu vor dem Sturm, vor der gewaltigen Um¬
wälzung, die von der Wirksamkeit des großen Mannes ausging. Sie wider¬
sprach den innersten Neigungen seiner Natur, besonders berührte ihn peinlich
der Zusammenbruch des Klosterlebens, das, wie evangelisch er auch über das¬
selbe dachte, doch durch die zartesten Beziehungen mit seinen Anschauungen
verknüpft war. Luthers unmittelbar religiösem Ideenkreise widmete er die
wärmste und lebhafteste Sympathie, aber die praktische Ausgestaltung desselben
im kirchlichen Leben stieß ihn zurück. Er wollte den neuen Geist mit den alten
Formen versöhnen; er lehnte es ab, an der Erzeugung neuer Formen für ihn
mitzuwirken.

Unsre Frage also: Hat die Mystik die Reformation angebahnt? können
wir weder mit einem unbedingten Ja noch mit einem unbedingten Nein beant¬
worten. Die Mystik hat über die Gedankengänge, welchen die mittelalterliche
Kirche Raum gewährte, nicht oder doch nur in sehr beschränktem Maße hinaus¬
geführt, aber sie hat den Boden bereitet, in welchen das Samenkorn des Prote¬
stantismus eingesenkt werden konnte.") Dieser selbst aber ist nur aus dem
Heilsbewußtsein der Reformatoren, in erster Linie Luthers, zu begreifen, aus
dem Inhalte und der Kraft desselben.

(Schluß folgt.)


H. Jacoby.


Hoethefrevel.

Unterm 5. September berichtete die „Neue Freie Presse" aus Wien folgendes:
„Heute Vormittag wurde in Rofners Buchhandlung das daselbst in Separat¬
ausgabe erschienene Gedicht Goethes: ,Das Tagebuch- im Auftrage der Staats¬
anwaltschaft mit Beschlag belegt. Als man dem konfiszirenden Beamten erklärte,



") Ugt. des Verfassers Liturgik d. Res. Bd. I, S. 140—41. Gothn, 1871.
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[0107] auf den Einfluß Luthers zurückzuführen haben, mit dem er in lebhaftem Brief¬ wechsel stand; daß dieser ihn in die Paulinischen und Augustinischen Studien, denen er selbst oblag, mit hineingezogen hatte? Stanpitz ist je länger je mehr dem Standpunkte Luthers nahe gekommen, besonders in der Werthschätzung des Glaubens. Der Zug einer mystischen Kontemplation, die, spiritualistisch geartet, äußeres Sein und äußeres Thun gering achtet, ist seinen späteren Schriften eigen. Was ihn von der Sache Luthers fern hielt, war seine Scheu vor dem Sturm, vor der gewaltigen Um¬ wälzung, die von der Wirksamkeit des großen Mannes ausging. Sie wider¬ sprach den innersten Neigungen seiner Natur, besonders berührte ihn peinlich der Zusammenbruch des Klosterlebens, das, wie evangelisch er auch über das¬ selbe dachte, doch durch die zartesten Beziehungen mit seinen Anschauungen verknüpft war. Luthers unmittelbar religiösem Ideenkreise widmete er die wärmste und lebhafteste Sympathie, aber die praktische Ausgestaltung desselben im kirchlichen Leben stieß ihn zurück. Er wollte den neuen Geist mit den alten Formen versöhnen; er lehnte es ab, an der Erzeugung neuer Formen für ihn mitzuwirken. Unsre Frage also: Hat die Mystik die Reformation angebahnt? können wir weder mit einem unbedingten Ja noch mit einem unbedingten Nein beant¬ worten. Die Mystik hat über die Gedankengänge, welchen die mittelalterliche Kirche Raum gewährte, nicht oder doch nur in sehr beschränktem Maße hinaus¬ geführt, aber sie hat den Boden bereitet, in welchen das Samenkorn des Prote¬ stantismus eingesenkt werden konnte.") Dieser selbst aber ist nur aus dem Heilsbewußtsein der Reformatoren, in erster Linie Luthers, zu begreifen, aus dem Inhalte und der Kraft desselben. (Schluß folgt.) H. Jacoby. Hoethefrevel. Unterm 5. September berichtete die „Neue Freie Presse" aus Wien folgendes: „Heute Vormittag wurde in Rofners Buchhandlung das daselbst in Separat¬ ausgabe erschienene Gedicht Goethes: ,Das Tagebuch- im Auftrage der Staats¬ anwaltschaft mit Beschlag belegt. Als man dem konfiszirenden Beamten erklärte, ") Ugt. des Verfassers Liturgik d. Res. Bd. I, S. 140—41. Gothn, 1871.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/107>, abgerufen am 06.05.2024.