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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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wenige davon sind Gelegenheitsgedichte, aber wie sehr würde man Unrecht
thun, sich durch Titel wie "An den Vater meines Pathchens" oder "An meinen
Arzt Herrn Dr. Elsäßer" abschrecken zu lassen. Gedichte wie diese beiden können
wohl vergessen werden (und das ist vermuthlich ihr Loos), aber sie können
niemals veralten. Man kann es freilich nicht ahnen, was solche Ueberschriften
bergen, wenn man nicht die besondere Neigung dieses Dichters gerade für das
Kleine und Kleinste kennt.

Alles Einzelne hat für Mörike selbständigen Werth. Daher unter seinen
Gedichten so viele, die lediglich ein Stimmungsbild geben, daher in allen seinen
Dichtungen die Ueberfülle des Details, daher das Atomistische in seinen größeren
Kompositionen. Aber daher aber auch diese Schilderungen, die uns einen
Gegenstand, eine Situation mit unvergleichlicher Anschaulichkeit und Plastik,
mit der vollen Frische, mit dem ganzen Duft und Stimmungsgehalt des un¬
mittelbaren Eindrucks vor die Seele stellen, ja unsere Sinne erst wieder zu
ihrer vollen Feinfühligkeit und Regsamkeit erwecken. Ich kann den Tritt eines
Vogels im Schnee nicht sehen, ohne an Mörike zu denken, und in jedem Früh¬
jahr erfreue ich mich an dem noch unentfalteten "kindlichen" Laub der Kastanie.
Noch nach Jahren erinnerte ich mich, nachdem ich einmal das Gedicht "Abreise"
gelesen, der weißgebliebenen Stelle auf dem Pflaster, wo während des kurzen
Sommerregens der Postwagen stand; worauf das Gedicht selbst hinauslief,
hatte ich vergessen. Tadelt man nun, daß in einem Gedichte wie diesem der eigent¬
liche Werth nur in dieser Schilderung liege, und daß darunter das Gleichge¬
wicht des Ganzen leide, so bin ich es nicht, der dies leugnet. Mörikes Poesie
hat ihre festen, enggezogenen Grenzen, hat unleugbar ihre Schwächen, aber es
ist Poesie. Wir müßten sehr viel reicher sein, wenn wir es verschmähen dürften,
uns nach Goldkörnern zu bücken.


A. Fresenius.


Sanct Ufra.

In den ersten Julitagen dieses Jahres feierte die Fürstenschule zu Se. Asra
in Meißen mit ihren hohen Gönnern und Pflegern, mit ihren ehemaligen und
gegenwärtigen Angehörigen den Einzug in ihre neuen, stattlichen, den Bedürf¬
nissen unserer Zeit entsprechenden Räume in einem Feste, das alle Theilnehmer,
alle darüber in den Zeitungen erschienenen Berichte als ein in jeder Beziehung
gelungenes und höchst weihevolles nicht genug preisen konnten. Ein solcher
Wendepunkt in der äußeren Geschichte der altberühmten Schule forderte von
selbst zu einem Rückblick auf die Vergangenheit derselben auf, an dem es denn


wenige davon sind Gelegenheitsgedichte, aber wie sehr würde man Unrecht
thun, sich durch Titel wie „An den Vater meines Pathchens" oder „An meinen
Arzt Herrn Dr. Elsäßer" abschrecken zu lassen. Gedichte wie diese beiden können
wohl vergessen werden (und das ist vermuthlich ihr Loos), aber sie können
niemals veralten. Man kann es freilich nicht ahnen, was solche Ueberschriften
bergen, wenn man nicht die besondere Neigung dieses Dichters gerade für das
Kleine und Kleinste kennt.

Alles Einzelne hat für Mörike selbständigen Werth. Daher unter seinen
Gedichten so viele, die lediglich ein Stimmungsbild geben, daher in allen seinen
Dichtungen die Ueberfülle des Details, daher das Atomistische in seinen größeren
Kompositionen. Aber daher aber auch diese Schilderungen, die uns einen
Gegenstand, eine Situation mit unvergleichlicher Anschaulichkeit und Plastik,
mit der vollen Frische, mit dem ganzen Duft und Stimmungsgehalt des un¬
mittelbaren Eindrucks vor die Seele stellen, ja unsere Sinne erst wieder zu
ihrer vollen Feinfühligkeit und Regsamkeit erwecken. Ich kann den Tritt eines
Vogels im Schnee nicht sehen, ohne an Mörike zu denken, und in jedem Früh¬
jahr erfreue ich mich an dem noch unentfalteten „kindlichen" Laub der Kastanie.
Noch nach Jahren erinnerte ich mich, nachdem ich einmal das Gedicht „Abreise"
gelesen, der weißgebliebenen Stelle auf dem Pflaster, wo während des kurzen
Sommerregens der Postwagen stand; worauf das Gedicht selbst hinauslief,
hatte ich vergessen. Tadelt man nun, daß in einem Gedichte wie diesem der eigent¬
liche Werth nur in dieser Schilderung liege, und daß darunter das Gleichge¬
wicht des Ganzen leide, so bin ich es nicht, der dies leugnet. Mörikes Poesie
hat ihre festen, enggezogenen Grenzen, hat unleugbar ihre Schwächen, aber es
ist Poesie. Wir müßten sehr viel reicher sein, wenn wir es verschmähen dürften,
uns nach Goldkörnern zu bücken.


A. Fresenius.


Sanct Ufra.

In den ersten Julitagen dieses Jahres feierte die Fürstenschule zu Se. Asra
in Meißen mit ihren hohen Gönnern und Pflegern, mit ihren ehemaligen und
gegenwärtigen Angehörigen den Einzug in ihre neuen, stattlichen, den Bedürf¬
nissen unserer Zeit entsprechenden Räume in einem Feste, das alle Theilnehmer,
alle darüber in den Zeitungen erschienenen Berichte als ein in jeder Beziehung
gelungenes und höchst weihevolles nicht genug preisen konnten. Ein solcher
Wendepunkt in der äußeren Geschichte der altberühmten Schule forderte von
selbst zu einem Rückblick auf die Vergangenheit derselben auf, an dem es denn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/191>, abgerufen am 06.05.2024.