Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.Die deutschen Städte im Mttetalter. Die historische Wissenschaft könnte man nicht unpassend als die Philosophie Ebensowenig aber wie die Gegensätze in dem Leben und den Eigenthum- Die deutschen Städte im Mttetalter. Die historische Wissenschaft könnte man nicht unpassend als die Philosophie Ebensowenig aber wie die Gegensätze in dem Leben und den Eigenthum- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0267" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143322"/> </div> <div n="1"> <head> Die deutschen Städte im Mttetalter.</head><lb/> <p xml:id="ID_775"> Die historische Wissenschaft könnte man nicht unpassend als die Philosophie<lb/> des Werdens bezeichnen. Erklärt die Naturwissenschaft das Wesen der uns<lb/> umgebenden natürlichen Welt aus dieser selbst und den Gesetzen, denen sie<lb/> unterworfen ist, so sucht die Historie das Verständniß der sie umgebenden<lb/> sittlichen und politischen Welt ans ihrer Genesis zu gewinnen. Nicht immer,<lb/> ja nur in den seltensten Fällen, ist die menschliche Vernunft im Stande, aus<lb/> sich selbst heraus die gegenwärtigen sittlichen und politischen Zustände zu ver¬<lb/> stehen, und eben dieses Unvermögen hat der historischen Forschung ihr Dasein<lb/> verliehen. Auf ihm beruht die eminente Bedeutung der Geschichte für das<lb/> politische Leben der Gegenwart. Während die Apostel der erhabenen mensch¬<lb/> lichen Vernunft Staat und Gesellschaft nach ihren „Vernunftprinzipien" und<lb/> vorgefaßten Meinungen umzumodeln streben, erkennt der Historiker immer<lb/> mehr und mehr die Bedeutung der Thatsache, daß jedes Institut der Gegen¬<lb/> wart ein Produkt einzelner Momente der Vergangenheit ist. Und wie die<lb/> Blume, die man ihrem heimischen Boden entreißt, dahinwelkt, so muß jedes<lb/> Staatswesen, dem man die gesunde Basis seiner historischen Vergangenheit<lb/> raubt, ohne die Eigenthümlichkeiten des historisch berechtigten Volkslebens zu<lb/> berücksichtigen, in seiner eigenen Haltlosigkeit zu Grunde gehen. An diesem<lb/> Mißgriff ist die große französische Revolution, so human und großartig die<lb/> Ideen waren, von denen sie ausging, gescheitert. Sitten, Gebräuche, Verfas¬<lb/> sungen umzuändern und auszubilden, ist, wenn es auf der historisch gegebenen<lb/> Grundlage geschieht, uicht nur Recht, sondern Pflicht jeder Nation; die Grund¬<lb/> lage selbst fortzuziehen und ohne dieselbe ein neues Gebäude errichten zu wollen,<lb/> ist uicht nur unklug, sondern sogar frevelhaft. Noch heute gibt es viele Poli¬<lb/> tiker, die unser Volk glücklich zu machen meinen, wenn sie die englische Ver¬<lb/> fassung in ihrer Totalität nach Deutschland übertragen. Sie vergessen, daß<lb/> das deutsche Volksleben auf ganz andern Grundlagen erwachsen ist als das<lb/> englische, und daß, was für England eine Musterverfassung ist, für Deutschland<lb/> vielleicht verderblich wäre. Auch das deutsche Volk wird einst zu völliger<lb/> politischer Freiheit heranreifen; muß es aber ans demselben Wege geschehen<lb/> wie in England? Man lasse dem Volke seine „berechtigten Eigenthümlich¬<lb/> keiten", und es wird sich fortbilden nach seinem Charakter, es wird zur Frei¬<lb/> heit und sittlichen Vollendung nach deutscher Art kommen, wenn es überhaupt<lb/> die Fähigkeit dazu in sich trägt.</p><lb/> <p xml:id="ID_776" next="#ID_777"> Ebensowenig aber wie die Gegensätze in dem Leben und den Eigenthum-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0267]
Die deutschen Städte im Mttetalter.
Die historische Wissenschaft könnte man nicht unpassend als die Philosophie
des Werdens bezeichnen. Erklärt die Naturwissenschaft das Wesen der uns
umgebenden natürlichen Welt aus dieser selbst und den Gesetzen, denen sie
unterworfen ist, so sucht die Historie das Verständniß der sie umgebenden
sittlichen und politischen Welt ans ihrer Genesis zu gewinnen. Nicht immer,
ja nur in den seltensten Fällen, ist die menschliche Vernunft im Stande, aus
sich selbst heraus die gegenwärtigen sittlichen und politischen Zustände zu ver¬
stehen, und eben dieses Unvermögen hat der historischen Forschung ihr Dasein
verliehen. Auf ihm beruht die eminente Bedeutung der Geschichte für das
politische Leben der Gegenwart. Während die Apostel der erhabenen mensch¬
lichen Vernunft Staat und Gesellschaft nach ihren „Vernunftprinzipien" und
vorgefaßten Meinungen umzumodeln streben, erkennt der Historiker immer
mehr und mehr die Bedeutung der Thatsache, daß jedes Institut der Gegen¬
wart ein Produkt einzelner Momente der Vergangenheit ist. Und wie die
Blume, die man ihrem heimischen Boden entreißt, dahinwelkt, so muß jedes
Staatswesen, dem man die gesunde Basis seiner historischen Vergangenheit
raubt, ohne die Eigenthümlichkeiten des historisch berechtigten Volkslebens zu
berücksichtigen, in seiner eigenen Haltlosigkeit zu Grunde gehen. An diesem
Mißgriff ist die große französische Revolution, so human und großartig die
Ideen waren, von denen sie ausging, gescheitert. Sitten, Gebräuche, Verfas¬
sungen umzuändern und auszubilden, ist, wenn es auf der historisch gegebenen
Grundlage geschieht, uicht nur Recht, sondern Pflicht jeder Nation; die Grund¬
lage selbst fortzuziehen und ohne dieselbe ein neues Gebäude errichten zu wollen,
ist uicht nur unklug, sondern sogar frevelhaft. Noch heute gibt es viele Poli¬
tiker, die unser Volk glücklich zu machen meinen, wenn sie die englische Ver¬
fassung in ihrer Totalität nach Deutschland übertragen. Sie vergessen, daß
das deutsche Volksleben auf ganz andern Grundlagen erwachsen ist als das
englische, und daß, was für England eine Musterverfassung ist, für Deutschland
vielleicht verderblich wäre. Auch das deutsche Volk wird einst zu völliger
politischer Freiheit heranreifen; muß es aber ans demselben Wege geschehen
wie in England? Man lasse dem Volke seine „berechtigten Eigenthümlich¬
keiten", und es wird sich fortbilden nach seinem Charakter, es wird zur Frei¬
heit und sittlichen Vollendung nach deutscher Art kommen, wenn es überhaupt
die Fähigkeit dazu in sich trägt.
Ebensowenig aber wie die Gegensätze in dem Leben und den Eigenthum-
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