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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Ale Aarienlegende.")

Es war ein jüdischer Mann aus Nazareth, mit Namen Joachim, der führte
ein Gott wohlgefälliges Leben. Er sang zur Ehre Gottes, las die heiligen
Schriften und fastete oft, von seinem Einkommen gab er den dritten Theil den
Armen, und den Rest theilte er mit der Kirche. Als er zwanzig Jahre alt
geworden war, nahm er ein Weib aus Bethlehem, die hieß Anna und war
eine Tochter des Fürsten Jsaschar. Aber es vergingen abermals zwanzig Jahre,
und es wurde ihnen kein Kind geboren. Als nun Joachim eiues Tages deu
Tempel betrat, um dem Herrn Rinder und Schafe zum Opfer darzubringen,
da schalt ihn Rüben, der Priester, und wies ihn aus dem Tempel hinaus, weil
der Herr ihn nicht des Kindersegens gewürdigt. Da ward Joachim tief betrübt
über diesen Schimpf und verließ sein Weib und ging zu dem Weideplatze seiner
Herden. Anna aber wehklagte und wußte sich nicht zu trösten. Und sie
beneidete die Vögel im Garten, wenn sie sie ihre Jungen füttern sah, und
betete brünstig zu Gott um Erfüllung ihres einzigen Wunsches. Da erschien
ihr ein Engel und verkündete ihr, sie werde eine Tochter gebären, die werde
eine Freude der Engel sein, gesegnet von Gott und eine Wonne der Menschheit.
Darnach erschien derselbige Engel auch Joachim und fragte ihn: "Warum ver¬
lässest du dein treues Weib?" und als er Joachims Herzeleid vernommen, spendete
er ihm Trost und befahl ihm, eilends zurückzukehren. Und als der Hiinmels-
bote verschwunden, fiel Joachim nieder und betete, und da die Hirten am
Abend von der Weide kamen, siehe, da fanden sie ihn noch am Boden liegend.
Da stand er auf und erzählte ihnen von dem wunderbaren Gesicht, das ihm
der Herr gesandt hatte. Am andern Morgen aber brach er auf und kehrte
heim zu seinem Weibe, von der er fünf Monate fern gewesen, ohne eine
Botschaft zu schicken; der Engel aber kam und meldete Anna, daß Joachim
wiederkehre. Da ging sie ihm entgegen, und ihr ganzes Gesinde mit ihr, und
empfing ihn voller Herzlichkeit. Und auch die Volksmenge kam voll Freuden
Joachim entgegen, und Rüben bereute seine übereilte Rede. Vierzig Wochen
aber nach Joachims Rückkehr gebar Anna eine Tochter, welche sie Maria nannten.



*) Die obige Darstellung der poesievollen Maricnlcgendc mögen die Leser als bescheidene
Weihnachtsgabe der "Grenzboten" hinnehmen. Sie schließt sich, völlig frei in der Form
und die biblischen Motive nur kurz, die rein legendarischen ausführlicher erzählend, an die
treffliche Zusammenstellung der Marieulegende an, die Atom Schultz vor kurzem zum
ersten Male in dem schon bei anderer Gelegenheit von uns empfohlenen Buche gegeben:
Die Legende vom Leben der Jungfrau Maria und ihre Darstellung in der bildenden
Kunst des Mittelalters. (Leipzig, Seemann, 1878.) Kunstfreunden werden dabei gewiß auf
Tritt und Schritt namhafte Werke der bildenden Kunst vor der Seele stehen.
Ale Aarienlegende.")

Es war ein jüdischer Mann aus Nazareth, mit Namen Joachim, der führte
ein Gott wohlgefälliges Leben. Er sang zur Ehre Gottes, las die heiligen
Schriften und fastete oft, von seinem Einkommen gab er den dritten Theil den
Armen, und den Rest theilte er mit der Kirche. Als er zwanzig Jahre alt
geworden war, nahm er ein Weib aus Bethlehem, die hieß Anna und war
eine Tochter des Fürsten Jsaschar. Aber es vergingen abermals zwanzig Jahre,
und es wurde ihnen kein Kind geboren. Als nun Joachim eiues Tages deu
Tempel betrat, um dem Herrn Rinder und Schafe zum Opfer darzubringen,
da schalt ihn Rüben, der Priester, und wies ihn aus dem Tempel hinaus, weil
der Herr ihn nicht des Kindersegens gewürdigt. Da ward Joachim tief betrübt
über diesen Schimpf und verließ sein Weib und ging zu dem Weideplatze seiner
Herden. Anna aber wehklagte und wußte sich nicht zu trösten. Und sie
beneidete die Vögel im Garten, wenn sie sie ihre Jungen füttern sah, und
betete brünstig zu Gott um Erfüllung ihres einzigen Wunsches. Da erschien
ihr ein Engel und verkündete ihr, sie werde eine Tochter gebären, die werde
eine Freude der Engel sein, gesegnet von Gott und eine Wonne der Menschheit.
Darnach erschien derselbige Engel auch Joachim und fragte ihn: „Warum ver¬
lässest du dein treues Weib?" und als er Joachims Herzeleid vernommen, spendete
er ihm Trost und befahl ihm, eilends zurückzukehren. Und als der Hiinmels-
bote verschwunden, fiel Joachim nieder und betete, und da die Hirten am
Abend von der Weide kamen, siehe, da fanden sie ihn noch am Boden liegend.
Da stand er auf und erzählte ihnen von dem wunderbaren Gesicht, das ihm
der Herr gesandt hatte. Am andern Morgen aber brach er auf und kehrte
heim zu seinem Weibe, von der er fünf Monate fern gewesen, ohne eine
Botschaft zu schicken; der Engel aber kam und meldete Anna, daß Joachim
wiederkehre. Da ging sie ihm entgegen, und ihr ganzes Gesinde mit ihr, und
empfing ihn voller Herzlichkeit. Und auch die Volksmenge kam voll Freuden
Joachim entgegen, und Rüben bereute seine übereilte Rede. Vierzig Wochen
aber nach Joachims Rückkehr gebar Anna eine Tochter, welche sie Maria nannten.



*) Die obige Darstellung der poesievollen Maricnlcgendc mögen die Leser als bescheidene
Weihnachtsgabe der „Grenzboten" hinnehmen. Sie schließt sich, völlig frei in der Form
und die biblischen Motive nur kurz, die rein legendarischen ausführlicher erzählend, an die
treffliche Zusammenstellung der Marieulegende an, die Atom Schultz vor kurzem zum
ersten Male in dem schon bei anderer Gelegenheit von uns empfohlenen Buche gegeben:
Die Legende vom Leben der Jungfrau Maria und ihre Darstellung in der bildenden
Kunst des Mittelalters. (Leipzig, Seemann, 1878.) Kunstfreunden werden dabei gewiß auf
Tritt und Schritt namhafte Werke der bildenden Kunst vor der Seele stehen.
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[0553] Ale Aarienlegende.") Es war ein jüdischer Mann aus Nazareth, mit Namen Joachim, der führte ein Gott wohlgefälliges Leben. Er sang zur Ehre Gottes, las die heiligen Schriften und fastete oft, von seinem Einkommen gab er den dritten Theil den Armen, und den Rest theilte er mit der Kirche. Als er zwanzig Jahre alt geworden war, nahm er ein Weib aus Bethlehem, die hieß Anna und war eine Tochter des Fürsten Jsaschar. Aber es vergingen abermals zwanzig Jahre, und es wurde ihnen kein Kind geboren. Als nun Joachim eiues Tages deu Tempel betrat, um dem Herrn Rinder und Schafe zum Opfer darzubringen, da schalt ihn Rüben, der Priester, und wies ihn aus dem Tempel hinaus, weil der Herr ihn nicht des Kindersegens gewürdigt. Da ward Joachim tief betrübt über diesen Schimpf und verließ sein Weib und ging zu dem Weideplatze seiner Herden. Anna aber wehklagte und wußte sich nicht zu trösten. Und sie beneidete die Vögel im Garten, wenn sie sie ihre Jungen füttern sah, und betete brünstig zu Gott um Erfüllung ihres einzigen Wunsches. Da erschien ihr ein Engel und verkündete ihr, sie werde eine Tochter gebären, die werde eine Freude der Engel sein, gesegnet von Gott und eine Wonne der Menschheit. Darnach erschien derselbige Engel auch Joachim und fragte ihn: „Warum ver¬ lässest du dein treues Weib?" und als er Joachims Herzeleid vernommen, spendete er ihm Trost und befahl ihm, eilends zurückzukehren. Und als der Hiinmels- bote verschwunden, fiel Joachim nieder und betete, und da die Hirten am Abend von der Weide kamen, siehe, da fanden sie ihn noch am Boden liegend. Da stand er auf und erzählte ihnen von dem wunderbaren Gesicht, das ihm der Herr gesandt hatte. Am andern Morgen aber brach er auf und kehrte heim zu seinem Weibe, von der er fünf Monate fern gewesen, ohne eine Botschaft zu schicken; der Engel aber kam und meldete Anna, daß Joachim wiederkehre. Da ging sie ihm entgegen, und ihr ganzes Gesinde mit ihr, und empfing ihn voller Herzlichkeit. Und auch die Volksmenge kam voll Freuden Joachim entgegen, und Rüben bereute seine übereilte Rede. Vierzig Wochen aber nach Joachims Rückkehr gebar Anna eine Tochter, welche sie Maria nannten. *) Die obige Darstellung der poesievollen Maricnlcgendc mögen die Leser als bescheidene Weihnachtsgabe der „Grenzboten" hinnehmen. Sie schließt sich, völlig frei in der Form und die biblischen Motive nur kurz, die rein legendarischen ausführlicher erzählend, an die treffliche Zusammenstellung der Marieulegende an, die Atom Schultz vor kurzem zum ersten Male in dem schon bei anderer Gelegenheit von uns empfohlenen Buche gegeben: Die Legende vom Leben der Jungfrau Maria und ihre Darstellung in der bildenden Kunst des Mittelalters. (Leipzig, Seemann, 1878.) Kunstfreunden werden dabei gewiß auf Tritt und Schritt namhafte Werke der bildenden Kunst vor der Seele stehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/553>, abgerufen am 06.05.2024.