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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Beiträge zur Beurtheilung der Judenfrage.
4. Die deutsche Gesetzgebung über die Juden unmittelbar vor
der Emancipation.

In unserm dritten Artikel verfolgten wir die Geschichte des Judenvolkes
in seinen deutscheu Kolonien bis zu dem Geueral - Judenprivilegium Friedrichs
des Großen und den reformatorischen Versuchen Moses Mendelssohns. Im
vorliegenden führen wir sie weiter bis zur vollständigen Emancipation des semi¬
tischen Elements, deren Zustandekommen wir im fünften Kapitel besprechen
werden, und stellen ausführlich dar, welcher Art die Gesetzgebung der verschie¬
denen deutschen Länder unmittelbar vor jener Maßregel war.

Recht angenehme Aussichten eröffneten sich den Juden durch das Tolercmz-
edict, welches Kaiser Josef 1782 für Oesterreich erließ, und zu welchem derselbe
wahrscheinlich durch die 1781 erschienene Schrift des preußischen Staatsmannes
Dohm "Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden" angeregt worden war,
die alle Hindernisse, welche einer Gleichberechtigung derselben in ihrem Wesen
entgegenstanden, als Folgen des auf ihnen lastenden Druckes betrachtet wissen
wollte und daraus für den Staat die Pflicht herleitete, die Juden durch allmäh¬
liche Beseitigung dieses Druckes zur Gewinnung der ihnen angeblich zukommenden
Nechtsstclluttg zu befähigen. Josefs Edict stellte die Juden mit den Christen
vor dem Gesetze gleich, schaffte den gelben Fleck, die Ghetti und die Ausschlie¬
ßung von öffentlichen Vergnügungsorten ab, gestattete den österreichischen Js-
weliten den Betrieb der Handwerke, der Advocatur und der ärztlichen Praxis
und verlangte von ihnen den Gebrauch der deutschen Sprache und die Errich¬
tung öffentlicher Lehranstalten zu geeigneter Erziehung ihrer Jugend, der übrigens
auch der Eintritt in andere öffentliche Schulen erlaubt wurde. Indeß gelangten
die Bestimmungen dieses Erlasses damals nicht zu ernstlicher Ausführung, und
die völlige Emancipation der Juden in Oesterreich und Ungarn vollzog sich erst
in viel späterer Zeit.

Ju Preußen wurden den Jsrcieliten 1790 einige weitere Entlastungen be¬
willigt. Aehnliches fand in andern deutschen Staaten statt, immer aber verfahr
mau dabei mit Maß und Vorsicht. Dagegen gelangte": die Juden in Frankreich
durch die Revolution von 1789 plötzlich zum Genusse aller staatsbürgerlichen Rechte,
und Napoleon ließ sie im Ganzen dabei. Dies wirkte auch auf Deutschland weiter.
Die Rheinbundsstaaten folgten von 1806 bis 1813 großentheils dem Vorbilde
der Regierung ihres Protectors und Hegemons. Der Leibzoll wurde schon


Grenzboten I. 1380. 69
Beiträge zur Beurtheilung der Judenfrage.
4. Die deutsche Gesetzgebung über die Juden unmittelbar vor
der Emancipation.

In unserm dritten Artikel verfolgten wir die Geschichte des Judenvolkes
in seinen deutscheu Kolonien bis zu dem Geueral - Judenprivilegium Friedrichs
des Großen und den reformatorischen Versuchen Moses Mendelssohns. Im
vorliegenden führen wir sie weiter bis zur vollständigen Emancipation des semi¬
tischen Elements, deren Zustandekommen wir im fünften Kapitel besprechen
werden, und stellen ausführlich dar, welcher Art die Gesetzgebung der verschie¬
denen deutschen Länder unmittelbar vor jener Maßregel war.

Recht angenehme Aussichten eröffneten sich den Juden durch das Tolercmz-
edict, welches Kaiser Josef 1782 für Oesterreich erließ, und zu welchem derselbe
wahrscheinlich durch die 1781 erschienene Schrift des preußischen Staatsmannes
Dohm „Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden" angeregt worden war,
die alle Hindernisse, welche einer Gleichberechtigung derselben in ihrem Wesen
entgegenstanden, als Folgen des auf ihnen lastenden Druckes betrachtet wissen
wollte und daraus für den Staat die Pflicht herleitete, die Juden durch allmäh¬
liche Beseitigung dieses Druckes zur Gewinnung der ihnen angeblich zukommenden
Nechtsstclluttg zu befähigen. Josefs Edict stellte die Juden mit den Christen
vor dem Gesetze gleich, schaffte den gelben Fleck, die Ghetti und die Ausschlie¬
ßung von öffentlichen Vergnügungsorten ab, gestattete den österreichischen Js-
weliten den Betrieb der Handwerke, der Advocatur und der ärztlichen Praxis
und verlangte von ihnen den Gebrauch der deutschen Sprache und die Errich¬
tung öffentlicher Lehranstalten zu geeigneter Erziehung ihrer Jugend, der übrigens
auch der Eintritt in andere öffentliche Schulen erlaubt wurde. Indeß gelangten
die Bestimmungen dieses Erlasses damals nicht zu ernstlicher Ausführung, und
die völlige Emancipation der Juden in Oesterreich und Ungarn vollzog sich erst
in viel späterer Zeit.

Ju Preußen wurden den Jsrcieliten 1790 einige weitere Entlastungen be¬
willigt. Aehnliches fand in andern deutschen Staaten statt, immer aber verfahr
mau dabei mit Maß und Vorsicht. Dagegen gelangte«: die Juden in Frankreich
durch die Revolution von 1789 plötzlich zum Genusse aller staatsbürgerlichen Rechte,
und Napoleon ließ sie im Ganzen dabei. Dies wirkte auch auf Deutschland weiter.
Die Rheinbundsstaaten folgten von 1806 bis 1813 großentheils dem Vorbilde
der Regierung ihres Protectors und Hegemons. Der Leibzoll wurde schon


Grenzboten I. 1380. 69
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[0553] Beiträge zur Beurtheilung der Judenfrage. 4. Die deutsche Gesetzgebung über die Juden unmittelbar vor der Emancipation. In unserm dritten Artikel verfolgten wir die Geschichte des Judenvolkes in seinen deutscheu Kolonien bis zu dem Geueral - Judenprivilegium Friedrichs des Großen und den reformatorischen Versuchen Moses Mendelssohns. Im vorliegenden führen wir sie weiter bis zur vollständigen Emancipation des semi¬ tischen Elements, deren Zustandekommen wir im fünften Kapitel besprechen werden, und stellen ausführlich dar, welcher Art die Gesetzgebung der verschie¬ denen deutschen Länder unmittelbar vor jener Maßregel war. Recht angenehme Aussichten eröffneten sich den Juden durch das Tolercmz- edict, welches Kaiser Josef 1782 für Oesterreich erließ, und zu welchem derselbe wahrscheinlich durch die 1781 erschienene Schrift des preußischen Staatsmannes Dohm „Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden" angeregt worden war, die alle Hindernisse, welche einer Gleichberechtigung derselben in ihrem Wesen entgegenstanden, als Folgen des auf ihnen lastenden Druckes betrachtet wissen wollte und daraus für den Staat die Pflicht herleitete, die Juden durch allmäh¬ liche Beseitigung dieses Druckes zur Gewinnung der ihnen angeblich zukommenden Nechtsstclluttg zu befähigen. Josefs Edict stellte die Juden mit den Christen vor dem Gesetze gleich, schaffte den gelben Fleck, die Ghetti und die Ausschlie¬ ßung von öffentlichen Vergnügungsorten ab, gestattete den österreichischen Js- weliten den Betrieb der Handwerke, der Advocatur und der ärztlichen Praxis und verlangte von ihnen den Gebrauch der deutschen Sprache und die Errich¬ tung öffentlicher Lehranstalten zu geeigneter Erziehung ihrer Jugend, der übrigens auch der Eintritt in andere öffentliche Schulen erlaubt wurde. Indeß gelangten die Bestimmungen dieses Erlasses damals nicht zu ernstlicher Ausführung, und die völlige Emancipation der Juden in Oesterreich und Ungarn vollzog sich erst in viel späterer Zeit. Ju Preußen wurden den Jsrcieliten 1790 einige weitere Entlastungen be¬ willigt. Aehnliches fand in andern deutschen Staaten statt, immer aber verfahr mau dabei mit Maß und Vorsicht. Dagegen gelangte«: die Juden in Frankreich durch die Revolution von 1789 plötzlich zum Genusse aller staatsbürgerlichen Rechte, und Napoleon ließ sie im Ganzen dabei. Dies wirkte auch auf Deutschland weiter. Die Rheinbundsstaaten folgten von 1806 bis 1813 großentheils dem Vorbilde der Regierung ihres Protectors und Hegemons. Der Leibzoll wurde schon Grenzboten I. 1380. 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/553>, abgerufen am 06.05.2024.