Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der russisch-chinesische Krieg und England.

Die jetzt regierende chinesische Dynastie hat ihr Orakel. Im Hofe eines
Tempels zu Peking steht ein vom Kaiser Schuntschi, ihrem Begründer, gepflanzter
Nußbaum, der durch seinen Zustand die nahe Zukunft des Reiches verkündet.
Kränkelt er, so bedeutet das für ganz China Unheil und Nachtheil, grünt er
von neuem auf, so weissagt das Sieg und Gedeihen. Gegenwärtig lebt der
alte Baum sichtlich wieder auf, und das Reich der Mitte steht am Vorabende
eines Krieges mit Rußland. Daher am kaiserlichen Hofe starke Zuversicht und
festes Vertrauen auf den Ausgang des Streites mit den "rothhaarigen Bar¬
baren" des Nordens.

Nach gewissen Nachrichten, die vor etwa vierzehn Tagen ans centralasiati-
schen Bazaren nach England gelangten und von den Londoner Blättern ver¬
öffentlicht wurden, hätte der Krieg um Kuldscha bereits begonnen, und die
Soldaten des chinesischen Kaisers hätten schon Erfolge errungen, welche die
Prophezeiung des heiligen Nuszbaums vorläufig rechtfertigen würden. Nach jenen
Gerüchten, deren Begründung seitdem russischerseits in Abrede gestellt worden
ist, während Depeschen aus Indien sie bestätigten, sodaß wir sie bis ans wei¬
teres als unsicher ansehen müssen, aber doch nicht übergehen dürfen, hat eine
Gesellschaft von Kaufleuten aus Chokand nach Kabul die Kunde gebracht, daß
die Chinesen einer über Osch und Gulscha nach Kaschgar marschirenden russi¬
schen Truppenabtheilung zwei Niederlagen beigebracht haben. Der erste Augriff
der Himmlischen auf jenes Corps sei im Terek-Passe erfolgt und habe mit einem
vollständigen Siege der Angreifer geendigt, dann hätten die letzteren die Russen
bis Kiön Karghan verfolgt und sie in Verwirrung nach Osch zurückgetrieben.
Zu welcher Zeit dies geschehen, erfuhr man nicht, die genannten Orte aber sind
auf jeder guten Karte von Centralasien zu finden. Sie liegen auf der Haupt¬
straße von Chokand nach Kaschgar, der Terek-Paß befindet sich an der Grenze
zwischen Turkestan und Kaschgaria, und wenn die chinesischen Truppen wirklich,
wie die Chokander Kaufleute schließlich wissen wollten, Gulscha erreicht hätten,


Grenzboten III. 18L0. 17
Der russisch-chinesische Krieg und England.

Die jetzt regierende chinesische Dynastie hat ihr Orakel. Im Hofe eines
Tempels zu Peking steht ein vom Kaiser Schuntschi, ihrem Begründer, gepflanzter
Nußbaum, der durch seinen Zustand die nahe Zukunft des Reiches verkündet.
Kränkelt er, so bedeutet das für ganz China Unheil und Nachtheil, grünt er
von neuem auf, so weissagt das Sieg und Gedeihen. Gegenwärtig lebt der
alte Baum sichtlich wieder auf, und das Reich der Mitte steht am Vorabende
eines Krieges mit Rußland. Daher am kaiserlichen Hofe starke Zuversicht und
festes Vertrauen auf den Ausgang des Streites mit den „rothhaarigen Bar¬
baren" des Nordens.

Nach gewissen Nachrichten, die vor etwa vierzehn Tagen ans centralasiati-
schen Bazaren nach England gelangten und von den Londoner Blättern ver¬
öffentlicht wurden, hätte der Krieg um Kuldscha bereits begonnen, und die
Soldaten des chinesischen Kaisers hätten schon Erfolge errungen, welche die
Prophezeiung des heiligen Nuszbaums vorläufig rechtfertigen würden. Nach jenen
Gerüchten, deren Begründung seitdem russischerseits in Abrede gestellt worden
ist, während Depeschen aus Indien sie bestätigten, sodaß wir sie bis ans wei¬
teres als unsicher ansehen müssen, aber doch nicht übergehen dürfen, hat eine
Gesellschaft von Kaufleuten aus Chokand nach Kabul die Kunde gebracht, daß
die Chinesen einer über Osch und Gulscha nach Kaschgar marschirenden russi¬
schen Truppenabtheilung zwei Niederlagen beigebracht haben. Der erste Augriff
der Himmlischen auf jenes Corps sei im Terek-Passe erfolgt und habe mit einem
vollständigen Siege der Angreifer geendigt, dann hätten die letzteren die Russen
bis Kiön Karghan verfolgt und sie in Verwirrung nach Osch zurückgetrieben.
Zu welcher Zeit dies geschehen, erfuhr man nicht, die genannten Orte aber sind
auf jeder guten Karte von Centralasien zu finden. Sie liegen auf der Haupt¬
straße von Chokand nach Kaschgar, der Terek-Paß befindet sich an der Grenze
zwischen Turkestan und Kaschgaria, und wenn die chinesischen Truppen wirklich,
wie die Chokander Kaufleute schließlich wissen wollten, Gulscha erreicht hätten,


Grenzboten III. 18L0. 17
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0137" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147224"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der russisch-chinesische Krieg und England.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_362"> Die jetzt regierende chinesische Dynastie hat ihr Orakel. Im Hofe eines<lb/>
Tempels zu Peking steht ein vom Kaiser Schuntschi, ihrem Begründer, gepflanzter<lb/>
Nußbaum, der durch seinen Zustand die nahe Zukunft des Reiches verkündet.<lb/>
Kränkelt er, so bedeutet das für ganz China Unheil und Nachtheil, grünt er<lb/>
von neuem auf, so weissagt das Sieg und Gedeihen. Gegenwärtig lebt der<lb/>
alte Baum sichtlich wieder auf, und das Reich der Mitte steht am Vorabende<lb/>
eines Krieges mit Rußland. Daher am kaiserlichen Hofe starke Zuversicht und<lb/>
festes Vertrauen auf den Ausgang des Streites mit den &#x201E;rothhaarigen Bar¬<lb/>
baren" des Nordens.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_363" next="#ID_364"> Nach gewissen Nachrichten, die vor etwa vierzehn Tagen ans centralasiati-<lb/>
schen Bazaren nach England gelangten und von den Londoner Blättern ver¬<lb/>
öffentlicht wurden, hätte der Krieg um Kuldscha bereits begonnen, und die<lb/>
Soldaten des chinesischen Kaisers hätten schon Erfolge errungen, welche die<lb/>
Prophezeiung des heiligen Nuszbaums vorläufig rechtfertigen würden. Nach jenen<lb/>
Gerüchten, deren Begründung seitdem russischerseits in Abrede gestellt worden<lb/>
ist, während Depeschen aus Indien sie bestätigten, sodaß wir sie bis ans wei¬<lb/>
teres als unsicher ansehen müssen, aber doch nicht übergehen dürfen, hat eine<lb/>
Gesellschaft von Kaufleuten aus Chokand nach Kabul die Kunde gebracht, daß<lb/>
die Chinesen einer über Osch und Gulscha nach Kaschgar marschirenden russi¬<lb/>
schen Truppenabtheilung zwei Niederlagen beigebracht haben. Der erste Augriff<lb/>
der Himmlischen auf jenes Corps sei im Terek-Passe erfolgt und habe mit einem<lb/>
vollständigen Siege der Angreifer geendigt, dann hätten die letzteren die Russen<lb/>
bis Kiön Karghan verfolgt und sie in Verwirrung nach Osch zurückgetrieben.<lb/>
Zu welcher Zeit dies geschehen, erfuhr man nicht, die genannten Orte aber sind<lb/>
auf jeder guten Karte von Centralasien zu finden. Sie liegen auf der Haupt¬<lb/>
straße von Chokand nach Kaschgar, der Terek-Paß befindet sich an der Grenze<lb/>
zwischen Turkestan und Kaschgaria, und wenn die chinesischen Truppen wirklich,<lb/>
wie die Chokander Kaufleute schließlich wissen wollten, Gulscha erreicht hätten,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 18L0. 17</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0137] Der russisch-chinesische Krieg und England. Die jetzt regierende chinesische Dynastie hat ihr Orakel. Im Hofe eines Tempels zu Peking steht ein vom Kaiser Schuntschi, ihrem Begründer, gepflanzter Nußbaum, der durch seinen Zustand die nahe Zukunft des Reiches verkündet. Kränkelt er, so bedeutet das für ganz China Unheil und Nachtheil, grünt er von neuem auf, so weissagt das Sieg und Gedeihen. Gegenwärtig lebt der alte Baum sichtlich wieder auf, und das Reich der Mitte steht am Vorabende eines Krieges mit Rußland. Daher am kaiserlichen Hofe starke Zuversicht und festes Vertrauen auf den Ausgang des Streites mit den „rothhaarigen Bar¬ baren" des Nordens. Nach gewissen Nachrichten, die vor etwa vierzehn Tagen ans centralasiati- schen Bazaren nach England gelangten und von den Londoner Blättern ver¬ öffentlicht wurden, hätte der Krieg um Kuldscha bereits begonnen, und die Soldaten des chinesischen Kaisers hätten schon Erfolge errungen, welche die Prophezeiung des heiligen Nuszbaums vorläufig rechtfertigen würden. Nach jenen Gerüchten, deren Begründung seitdem russischerseits in Abrede gestellt worden ist, während Depeschen aus Indien sie bestätigten, sodaß wir sie bis ans wei¬ teres als unsicher ansehen müssen, aber doch nicht übergehen dürfen, hat eine Gesellschaft von Kaufleuten aus Chokand nach Kabul die Kunde gebracht, daß die Chinesen einer über Osch und Gulscha nach Kaschgar marschirenden russi¬ schen Truppenabtheilung zwei Niederlagen beigebracht haben. Der erste Augriff der Himmlischen auf jenes Corps sei im Terek-Passe erfolgt und habe mit einem vollständigen Siege der Angreifer geendigt, dann hätten die letzteren die Russen bis Kiön Karghan verfolgt und sie in Verwirrung nach Osch zurückgetrieben. Zu welcher Zeit dies geschehen, erfuhr man nicht, die genannten Orte aber sind auf jeder guten Karte von Centralasien zu finden. Sie liegen auf der Haupt¬ straße von Chokand nach Kaschgar, der Terek-Paß befindet sich an der Grenze zwischen Turkestan und Kaschgaria, und wenn die chinesischen Truppen wirklich, wie die Chokander Kaufleute schließlich wissen wollten, Gulscha erreicht hätten, Grenzboten III. 18L0. 17

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/137
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/137>, abgerufen am 30.04.2024.