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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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1. ^'/re-co^o? -- der Helfer.

Der Aberglaube der classischen Völker weist mehr als eine Erscheinungs-
form auf, welche dem Beobachter des heutigen Volksglaubens ein Mi novi
s^t) fois entlockt. Dahin rechnen wir die im Alterthume weit verbreitete An¬
sicht, daß gewisse Leute durch allerlei geheime Künste, durch Zaubersprüche,
Knüpfung magischer Knoten u. dergl. ihren Mitmenschen zu schaden, insbe¬
sondere Krankheiten bei ihnen hervorzubringen im Stande wären. Dahin
rechnen wir aber auch die Thatsache, daß es nicht an Privat- oder Winkel-
Priestern und namentlich nicht an Frauen fehlte, welche durch Reinigungssprüche
und allerlei Manipulationen jegliches Ungemach abwehren zu können vorgaben.
Eine solche Sibylle, Namens Chärestrata, lebte ums Jahr 328 v. Chr. auf dem
zwei Jahrhunderte früher von Polykrates beherrschten Eiland Samos. Eben
wandelt sie wieder in der Stadt von Haus zu Haus, an ihrer Seite ein vier¬
zehnjähriger Knabe von schwächlichem Körperbau, liebenswürdigem, etwas tief¬
sinnigen Gesichtsausdruck, worin eine Linie theilncchmsvollen Mitleids für die
beklagenswerthen Kunden der Mutter hervortritt. Doch was soll der Knabe
als Begleiter der Zauberin? Die Mutter hat die Arbeit mit ihrem Sohne
getheilt: während sie die nöthigen Operationen und Gesticulationen macht, liest
der Knabe aus einem alten Pergamentbüchlein die nöthigen Zauberformeln
vor -- wie einst auch Aeschines, der bekannte Gegner des Demosthenes, als
Knabe seiner Mutter in ihrer priesterlichen Amtsthätigkeit Beihilfe leistete. Da¬
bei mag ihm so mancher Gedanke über das Unglück der Menschen kommen, ja
dann und wann mag durch seine Seele ein Schimmer von dem blitzen, was
hente Rationalismus heißt, und ihn einen Augenblick an der Biederkeit des
mütterlichen Berufes zweifeln lassen. Doch der Wille seiner in dürftigen
Verhältnissen lebenden Eltern gilt ihm alles. So unterstützt er denn auch
seinen Vater Neokles. Dieser Nobile mit altem Stammbaum und magerer
Kasse war mit einer Colonie von Athen nach Samos übergesiedelt, war bei der
Verloosung der Lündereien nicht besonders glücklich weggekommen und hatte daher
eine Elementarschule für Kinder des gemeinen Volkes errichtet. In der Füh¬
rung dieser Schule half ihm dann und wann sein Sohn als "Unterlehrer"
(6?r<)^tF"<?xttH.o?).

Die genannten Hauptbeschäftigungen des jungen Epikur -- so hieß der
Knabe --, die fast tägliche Berührung mit dem die Menschen in unsägliches
Elend stürzenden Aberglauben und seine frühe Schulpraxis, werden dem Leser
im weiteren Verlaufe der Darstellung als zwei Dinge erscheinen, welche auf
Inhalt und Methode des Amtes, dessen später der Mann Epikur waltete, einen
unleugbaren Einfluß geübt haben. Jene, die Berührung mit dem Aberglauben,


1. ^'/re-co^o? — der Helfer.

Der Aberglaube der classischen Völker weist mehr als eine Erscheinungs-
form auf, welche dem Beobachter des heutigen Volksglaubens ein Mi novi
s^t) fois entlockt. Dahin rechnen wir die im Alterthume weit verbreitete An¬
sicht, daß gewisse Leute durch allerlei geheime Künste, durch Zaubersprüche,
Knüpfung magischer Knoten u. dergl. ihren Mitmenschen zu schaden, insbe¬
sondere Krankheiten bei ihnen hervorzubringen im Stande wären. Dahin
rechnen wir aber auch die Thatsache, daß es nicht an Privat- oder Winkel-
Priestern und namentlich nicht an Frauen fehlte, welche durch Reinigungssprüche
und allerlei Manipulationen jegliches Ungemach abwehren zu können vorgaben.
Eine solche Sibylle, Namens Chärestrata, lebte ums Jahr 328 v. Chr. auf dem
zwei Jahrhunderte früher von Polykrates beherrschten Eiland Samos. Eben
wandelt sie wieder in der Stadt von Haus zu Haus, an ihrer Seite ein vier¬
zehnjähriger Knabe von schwächlichem Körperbau, liebenswürdigem, etwas tief¬
sinnigen Gesichtsausdruck, worin eine Linie theilncchmsvollen Mitleids für die
beklagenswerthen Kunden der Mutter hervortritt. Doch was soll der Knabe
als Begleiter der Zauberin? Die Mutter hat die Arbeit mit ihrem Sohne
getheilt: während sie die nöthigen Operationen und Gesticulationen macht, liest
der Knabe aus einem alten Pergamentbüchlein die nöthigen Zauberformeln
vor — wie einst auch Aeschines, der bekannte Gegner des Demosthenes, als
Knabe seiner Mutter in ihrer priesterlichen Amtsthätigkeit Beihilfe leistete. Da¬
bei mag ihm so mancher Gedanke über das Unglück der Menschen kommen, ja
dann und wann mag durch seine Seele ein Schimmer von dem blitzen, was
hente Rationalismus heißt, und ihn einen Augenblick an der Biederkeit des
mütterlichen Berufes zweifeln lassen. Doch der Wille seiner in dürftigen
Verhältnissen lebenden Eltern gilt ihm alles. So unterstützt er denn auch
seinen Vater Neokles. Dieser Nobile mit altem Stammbaum und magerer
Kasse war mit einer Colonie von Athen nach Samos übergesiedelt, war bei der
Verloosung der Lündereien nicht besonders glücklich weggekommen und hatte daher
eine Elementarschule für Kinder des gemeinen Volkes errichtet. In der Füh¬
rung dieser Schule half ihm dann und wann sein Sohn als „Unterlehrer"
(6?r<)^tF«<?xttH.o?).

Die genannten Hauptbeschäftigungen des jungen Epikur — so hieß der
Knabe —, die fast tägliche Berührung mit dem die Menschen in unsägliches
Elend stürzenden Aberglauben und seine frühe Schulpraxis, werden dem Leser
im weiteren Verlaufe der Darstellung als zwei Dinge erscheinen, welche auf
Inhalt und Methode des Amtes, dessen später der Mann Epikur waltete, einen
unleugbaren Einfluß geübt haben. Jene, die Berührung mit dem Aberglauben,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/19>, abgerufen am 30.04.2024.