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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Eine neue Biographie Peters des Großen.

Man kann nicht behaupten, daß die neuere politische Geschichtschreibung
eine lebhafte Neigung für die Biographie habe. Jene naive ältere Art, die in
der Geschichte der Menschheit welliger eine zusammenhängende, von großen Ge¬
setzen geleitete Entwicklung, als vielmehr das Werk einzelner großer, aus sich
selbst schöpfender Helden sah, die sich an diesen bewundernd oder hassend auf¬
regte und mit lebhaftester Theilnahme allem Persönlichen bis zur Anekdote und
zum Klatsche nachging, hat sich gegenüber einer vertiefteren Einsicht in das Wesen
des geschichtlichen Processes nicht behaupten können. Man weiß jetzt, daß nicht
nur die Könige sondern auch die Völker mit an diesem nie rastenden Processe
arbeiten, fördernd und hemmend, schiebend und geschoben, alle unter dem Ein¬
flüsse von Ideen, die sich unabhängig von dem Einzelnen entwickelt haben, und
bedingt durch die Verhältnisse, die stärker find als die Einzelnen, und so betont
die neuere Geschichtschreibung mit Vorliebe den Zusammenhang der Entwicklung
und wendet sich mit Eifer auf die Darstellung der Zustände und Verhältnisse.
Ganz wesentlich verändert sich dadurch der Standpunkt des Biographen gegen¬
über seinem Helden. Er kann nicht mehr eine Romanfigur aus ihm machen
wollen, die eines sorgfältig ausgeführten realen Hintergrundes nicht bedarf, er
wird sich gerade bemühen müssen, ihn in seiner ganzen geschichtlichen Gegebenheit
zu zeigen und darnach den Umfang und den Werth seiner individuellen Thä¬
tigkeit, seines persönlichen Wissens und Schaffens, seines Einflusses auf die ihn
umgebende Welt, seiner Bedeutung für die späteren Geschlechter hervortreten zu
lassen. Eine gute Biographie in diesem Sinne steigert nicht nur die Ansprüche
an den Autor, sondern auch an den Leser, sie will nicht in erster Reihe inter¬
essant, sondern geschichtlich wahr sein und erfordert eine ernsthafte und gespannte
Lectüre. Um so dankbarer ist sie dann aber auch gleichmäßig für beide Theile.

Als ein durchaus erfreuliches und weiten Kreisen zur Lectüre empfehlens-
werthes Werk in diesem Sinne erscheint die neueste Biographie Peters des
Großen von dem Dorpater Professor Alexander Bruckner*). Der Ver¬
fasser ist als Deutschrusse und geborner Petersburger besonders geeignet, sowohl
die persönliche Entwicklung des Schöpfers des modernen Rußlands, wie dessen
Bedeutung für sein Volk und für ganz Europa zu verstehen, ohne im nationalen
Sinne zu übertreiben. Und da seine Studie" schon seit Jahren gerade der



In der von Wilhelm Oncken hewvrgcrufenen "Allgemeinen Geschichte in Einzel¬
darstellungen". (Berlin, Gode.)
Eine neue Biographie Peters des Großen.

Man kann nicht behaupten, daß die neuere politische Geschichtschreibung
eine lebhafte Neigung für die Biographie habe. Jene naive ältere Art, die in
der Geschichte der Menschheit welliger eine zusammenhängende, von großen Ge¬
setzen geleitete Entwicklung, als vielmehr das Werk einzelner großer, aus sich
selbst schöpfender Helden sah, die sich an diesen bewundernd oder hassend auf¬
regte und mit lebhaftester Theilnahme allem Persönlichen bis zur Anekdote und
zum Klatsche nachging, hat sich gegenüber einer vertiefteren Einsicht in das Wesen
des geschichtlichen Processes nicht behaupten können. Man weiß jetzt, daß nicht
nur die Könige sondern auch die Völker mit an diesem nie rastenden Processe
arbeiten, fördernd und hemmend, schiebend und geschoben, alle unter dem Ein¬
flüsse von Ideen, die sich unabhängig von dem Einzelnen entwickelt haben, und
bedingt durch die Verhältnisse, die stärker find als die Einzelnen, und so betont
die neuere Geschichtschreibung mit Vorliebe den Zusammenhang der Entwicklung
und wendet sich mit Eifer auf die Darstellung der Zustände und Verhältnisse.
Ganz wesentlich verändert sich dadurch der Standpunkt des Biographen gegen¬
über seinem Helden. Er kann nicht mehr eine Romanfigur aus ihm machen
wollen, die eines sorgfältig ausgeführten realen Hintergrundes nicht bedarf, er
wird sich gerade bemühen müssen, ihn in seiner ganzen geschichtlichen Gegebenheit
zu zeigen und darnach den Umfang und den Werth seiner individuellen Thä¬
tigkeit, seines persönlichen Wissens und Schaffens, seines Einflusses auf die ihn
umgebende Welt, seiner Bedeutung für die späteren Geschlechter hervortreten zu
lassen. Eine gute Biographie in diesem Sinne steigert nicht nur die Ansprüche
an den Autor, sondern auch an den Leser, sie will nicht in erster Reihe inter¬
essant, sondern geschichtlich wahr sein und erfordert eine ernsthafte und gespannte
Lectüre. Um so dankbarer ist sie dann aber auch gleichmäßig für beide Theile.

Als ein durchaus erfreuliches und weiten Kreisen zur Lectüre empfehlens-
werthes Werk in diesem Sinne erscheint die neueste Biographie Peters des
Großen von dem Dorpater Professor Alexander Bruckner*). Der Ver¬
fasser ist als Deutschrusse und geborner Petersburger besonders geeignet, sowohl
die persönliche Entwicklung des Schöpfers des modernen Rußlands, wie dessen
Bedeutung für sein Volk und für ganz Europa zu verstehen, ohne im nationalen
Sinne zu übertreiben. Und da seine Studie» schon seit Jahren gerade der



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darstellungen". (Berlin, Gode.)
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/200>, abgerufen am 30.04.2024.