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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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der geschichtlichen Nothwendigkeit ihn bestimmt hat. Er hat den Europäisirungs-
proeeß Rußlands, dessen Anfänge schon unter die ersten Romanows fallen, in
ein beschleunigtes Tempo gebracht; dadurch, daß er dies mit so großem Erfolge
that, ist er der Schöpfer des modernen Rußlands geworden.


H. Markgraf.


Preußen und die Türkei.

Als sich in voriger Woche das Gerücht verbreitete, daß die preußische
Regierung der Pforte einige Beamte und Offiziere abtreten werde, welche bei
der Reorganisation der türkischen Verwaltung und Armee Hilfe leisten sollten,
erging sich die Presse sofort in allerlei Vermuthungen, und namentlich in Eng¬
land und Oesterreich sah mau -- dort vielleicht von abergläubischer Furcht ver¬
blendet, hier vielleicht bloß von dem Streben bewegt, Sensation zu mache", an
beiden Stellen wohl auch ein wenig von der heißen Julisonne beeinflußt, in
dem Vorgange allerlei Verwunderliches, Großartiges, einen genialen Schachzug
des deutschen Reichskanzlers, eine welthistorische Wendung, Anzeichen oder Vor¬
läufer eines -- ri8um ton<Zei.tiL -- deutsch-türkischen Bündnisses. Gott ist groß,
und die erfindende Phantasie uuserer Leitartikelschreiber und Correspondenzfabri-
kanten ist es auf dem Gebiete des Möglichen und Unmöglichen gleichfalls. Sie
verrichtet hier geradezu Wunder der Gedankenlosigkeit, und die leichtgläubige
Masse, die sich von ihr beeinflussen läßt, hält die Hirngespinste, die ihr vorge¬
spiegelt werden, in der Regel für um so wirklicher, je grotesker sie gestaltet sind.

In Wahrheit liegt die Sache sehr einfach. Sie hat nichts Ungeheuerliches,
nichts Weitgreifendes, Tiefangelegtes und Unerhörtes an sich, ist vielmehr ein
ganz natürliches und prosaisches Vorkommniß, das keineswegs ohne Vorgang
ist. Vor einigen Monaten wendet sich der Sultan an die deutsche Regierung
und erbittet sich von ihr einige Beamte zur Regelung der tief im Argen liegen¬
den türkischen Finanzwirthschaft und einige Offiziere zur Beihilfe bei der Reor¬
ganisation der osmanischen Truppen. Die Initiative geht also von Stambul
und nicht von Berlin aus. Hier findet man kein Bedenken, dem Wunsche des
Großherrn zu entsprechen, und empfiehlt zunächst der Pforte einen höheren
rheinischen Beamten von der Administration, Herrn Wettendvrf, der mit guten
finanziellen Eigenschaften ungewöhnliche Sprachkenntniß verbindet und, wie sein
Aufrücken zum Major in der Landwehr schließen läßt, auch eine gewisse alli-


der geschichtlichen Nothwendigkeit ihn bestimmt hat. Er hat den Europäisirungs-
proeeß Rußlands, dessen Anfänge schon unter die ersten Romanows fallen, in
ein beschleunigtes Tempo gebracht; dadurch, daß er dies mit so großem Erfolge
that, ist er der Schöpfer des modernen Rußlands geworden.


H. Markgraf.


Preußen und die Türkei.

Als sich in voriger Woche das Gerücht verbreitete, daß die preußische
Regierung der Pforte einige Beamte und Offiziere abtreten werde, welche bei
der Reorganisation der türkischen Verwaltung und Armee Hilfe leisten sollten,
erging sich die Presse sofort in allerlei Vermuthungen, und namentlich in Eng¬
land und Oesterreich sah mau — dort vielleicht von abergläubischer Furcht ver¬
blendet, hier vielleicht bloß von dem Streben bewegt, Sensation zu mache», an
beiden Stellen wohl auch ein wenig von der heißen Julisonne beeinflußt, in
dem Vorgange allerlei Verwunderliches, Großartiges, einen genialen Schachzug
des deutschen Reichskanzlers, eine welthistorische Wendung, Anzeichen oder Vor¬
läufer eines — ri8um ton<Zei.tiL — deutsch-türkischen Bündnisses. Gott ist groß,
und die erfindende Phantasie uuserer Leitartikelschreiber und Correspondenzfabri-
kanten ist es auf dem Gebiete des Möglichen und Unmöglichen gleichfalls. Sie
verrichtet hier geradezu Wunder der Gedankenlosigkeit, und die leichtgläubige
Masse, die sich von ihr beeinflussen läßt, hält die Hirngespinste, die ihr vorge¬
spiegelt werden, in der Regel für um so wirklicher, je grotesker sie gestaltet sind.

In Wahrheit liegt die Sache sehr einfach. Sie hat nichts Ungeheuerliches,
nichts Weitgreifendes, Tiefangelegtes und Unerhörtes an sich, ist vielmehr ein
ganz natürliches und prosaisches Vorkommniß, das keineswegs ohne Vorgang
ist. Vor einigen Monaten wendet sich der Sultan an die deutsche Regierung
und erbittet sich von ihr einige Beamte zur Regelung der tief im Argen liegen¬
den türkischen Finanzwirthschaft und einige Offiziere zur Beihilfe bei der Reor¬
ganisation der osmanischen Truppen. Die Initiative geht also von Stambul
und nicht von Berlin aus. Hier findet man kein Bedenken, dem Wunsche des
Großherrn zu entsprechen, und empfiehlt zunächst der Pforte einen höheren
rheinischen Beamten von der Administration, Herrn Wettendvrf, der mit guten
finanziellen Eigenschaften ungewöhnliche Sprachkenntniß verbindet und, wie sein
Aufrücken zum Major in der Landwehr schließen läßt, auch eine gewisse alli-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/205>, abgerufen am 30.04.2024.