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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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wenn sie uns aus der Erscheinungswelt in die Welt der schaffenden Kräfte
selbst einführt. Wir meinen: in letzterem Falle. Doch wird die Frage wohl
ewig die beiden einander widersprechenden Antworten finden.


H. Riemann.


Vom deutschen Unterrichte und von deutscher Bildung.
(Schluß.)

Mancherlei Uebelstände, über die wir uns hier nicht verbreiten können,
unter anderen die Zeitrichtung mit ihrem Cultus des bloßen Wissens und der
damit wohl in Zusammenhang stehenden Schuldressur mögen es verschuldet
haben, daß im allgemeinen in der Methode des alt- und fremdsprachlichen
grammatischen Unterrichts -- wo überhaupt von einer solchen die Rede sein
kann -- noch so wenig ein Grundsatz zur Anerkennung hat gelangen können,
durch den der vielfach erstarrte Betrieb wenigstens der alten (in dem Falle
wirklich "todten") Sprachen neues Leben gewinnen könnte, der Satz nämlich,
daß den Schülern nichts gelehrt werde, was sie aus sich selber finden können.
Daß mancher junge, noch unerfahrene Lehrer, dem man auf dem Gymnasium
ja meist diese harte Nuß des Elementarunterrichts zu knacken giebt, in einer
freieren Bewegung und einem pädagogisch vernünftigere!: Verfahren durch die
Macht der Tradition und mancherlei äußere Rücksichten gehemmt ist und
gradezu dahin gedrängt wird, durch Dritten und Einpauker sich seinen Ruf
als tüchtiger Pädagog zu erringen, ist eine männiglich bekannte, deshalb
aber nicht minder traurige Thatsache. Es soll nicht bezweifelt werden, daß durch
eine gewisse didaktische Routine gar viele Lehrer es heutzutage zu Erfolgen
bringen, die sie in den Augen "strammer" Directoren als künftige Meister von
der Schule erscheinen lassen, solcher Directoren, die auf einen soliden Fonds
an positiven Kenntnissen etwas halten, der zumeist darin besteht, daß alles wie
am Schuttrchen gewußt wird, oder, um mit Hildebrand zu reden, daß "das Ge¬
wußte aus dem Vorrathe wie blindlings herausgeholt wird oder gleichsam von
selber an einander hängend herausfällt." Es mag auch zugegeben werden, daß
em kleiner Sextaner und Quintaner -- höher hinauf zu greifen hüten wir
uns -- mit Lust und Freude seine lateinschen Vokabeln u.'s. w. lernt, ohne
Reh weiter viel dabei zu denken -- was reizt nicht die Lernlust, die Eroberungs-
lust solch wissensstolzer Bürschchen! Wieviel aber damit an wirklicher Bil¬
dung gewonnen wird, die nicht bloß dem Gedächtniß und dem allerdürrsten
<!>erstcindesleben zu Gute kommt, wieweit bei diesem ewigen Memoriren und
den einseitigen Verstandesexercitien von einer allseitigen Förderung des inneren
Gebens die Rede sein kann, auf diese Frage möchte die ehrliche Antwort wohl
w einer Weise ausfallen, die den Aufwand an Zeit uno Kräften auf beideu
Seiten, bei Lehrer und Schüler, schwerlich gelohnt erscheinen ließe. Verdienst
wieder Lehrmethode ist es gewiß nicht, wenn der jugendliche Geist noch so frisch
und empfänglich für die Zukunft bleibt, wie er es Gott sei Dank im Ganzen immer
noch ist; es geht eben nichts über die Unverwüstlichkeit jugendlicher Frische.
Haß der simpelste Satz, um mit einem concreten Beispiele aufzuwarten, ein
Miz elementares insrisg, sse rotunä-i, sich als vortrefflicher, formal bildender
Stoff eigne, wenn die Sache richtig und lebendig angefaßt und von einem weiten


Grenzboten III. 1880. öl

wenn sie uns aus der Erscheinungswelt in die Welt der schaffenden Kräfte
selbst einführt. Wir meinen: in letzterem Falle. Doch wird die Frage wohl
ewig die beiden einander widersprechenden Antworten finden.


H. Riemann.


Vom deutschen Unterrichte und von deutscher Bildung.
(Schluß.)

Mancherlei Uebelstände, über die wir uns hier nicht verbreiten können,
unter anderen die Zeitrichtung mit ihrem Cultus des bloßen Wissens und der
damit wohl in Zusammenhang stehenden Schuldressur mögen es verschuldet
haben, daß im allgemeinen in der Methode des alt- und fremdsprachlichen
grammatischen Unterrichts — wo überhaupt von einer solchen die Rede sein
kann — noch so wenig ein Grundsatz zur Anerkennung hat gelangen können,
durch den der vielfach erstarrte Betrieb wenigstens der alten (in dem Falle
wirklich „todten") Sprachen neues Leben gewinnen könnte, der Satz nämlich,
daß den Schülern nichts gelehrt werde, was sie aus sich selber finden können.
Daß mancher junge, noch unerfahrene Lehrer, dem man auf dem Gymnasium
ja meist diese harte Nuß des Elementarunterrichts zu knacken giebt, in einer
freieren Bewegung und einem pädagogisch vernünftigere!: Verfahren durch die
Macht der Tradition und mancherlei äußere Rücksichten gehemmt ist und
gradezu dahin gedrängt wird, durch Dritten und Einpauker sich seinen Ruf
als tüchtiger Pädagog zu erringen, ist eine männiglich bekannte, deshalb
aber nicht minder traurige Thatsache. Es soll nicht bezweifelt werden, daß durch
eine gewisse didaktische Routine gar viele Lehrer es heutzutage zu Erfolgen
bringen, die sie in den Augen „strammer" Directoren als künftige Meister von
der Schule erscheinen lassen, solcher Directoren, die auf einen soliden Fonds
an positiven Kenntnissen etwas halten, der zumeist darin besteht, daß alles wie
am Schuttrchen gewußt wird, oder, um mit Hildebrand zu reden, daß „das Ge¬
wußte aus dem Vorrathe wie blindlings herausgeholt wird oder gleichsam von
selber an einander hängend herausfällt." Es mag auch zugegeben werden, daß
em kleiner Sextaner und Quintaner — höher hinauf zu greifen hüten wir
uns — mit Lust und Freude seine lateinschen Vokabeln u.'s. w. lernt, ohne
Reh weiter viel dabei zu denken — was reizt nicht die Lernlust, die Eroberungs-
lust solch wissensstolzer Bürschchen! Wieviel aber damit an wirklicher Bil¬
dung gewonnen wird, die nicht bloß dem Gedächtniß und dem allerdürrsten
<!>erstcindesleben zu Gute kommt, wieweit bei diesem ewigen Memoriren und
den einseitigen Verstandesexercitien von einer allseitigen Förderung des inneren
Gebens die Rede sein kann, auf diese Frage möchte die ehrliche Antwort wohl
w einer Weise ausfallen, die den Aufwand an Zeit uno Kräften auf beideu
Seiten, bei Lehrer und Schüler, schwerlich gelohnt erscheinen ließe. Verdienst
wieder Lehrmethode ist es gewiß nicht, wenn der jugendliche Geist noch so frisch
und empfänglich für die Zukunft bleibt, wie er es Gott sei Dank im Ganzen immer
noch ist; es geht eben nichts über die Unverwüstlichkeit jugendlicher Frische.
Haß der simpelste Satz, um mit einem concreten Beispiele aufzuwarten, ein
Miz elementares insrisg, sse rotunä-i, sich als vortrefflicher, formal bildender
Stoff eigne, wenn die Sache richtig und lebendig angefaßt und von einem weiten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/242>, abgerufen am 30.04.2024.