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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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England und die Niederlage bei Kandahar.

Die letzte Woche des Juli war eine Woche größter Aufregung für England,
und wenn die besorgte Stimmung sich seitdem gemildert und ruhigerer Ent¬
schlossenheit gegenüber einer schweren Gefahr Platz gemacht hat, so hat der Schlag,
der jene Aufregung veranlaßte, doch noch immer Bedenkliches genug, um Re¬
gierung und Publikum in England vor allen anderen Dingen zu beschäftigen.
Bei ihrer möglichen Rückwirkung auf europäische Fragen aber, auf den türkisch¬
griechischen Grenzstreit und den Bestand des Whigministeriums in London,
müssen auch wir von der Niederlage bei Kandahar, die der, welche die britische
Macht vor etwa Jahresfrist bei Jsandula durch König Cetewayos Kaffernkrieger
erlitt, an Bedeutung mindestens gleich steht, mit einiger Ausführlichkeit Notiz
nehmen. Betrachten wir zunächst das Thatsächliche, die Ereignisse und die
durch sie in Afghanistan für die englische Armee herbeigeführte Lage, und ver¬
suchen wir uns dann über die Folgen klar zu werden, welche diese Wendung
der Dinge wahrscheinlich haben oder nicht haben wird -- nicht haben; denn
die Bedeutung der Sache ist im ersten Schreck oder, bei den Gegnern der
Politik Mr. Gladstones, in der ersten Freude offenbar stark übertrieben worden.

Um den 19. Juni rückte der Beherrscher von Herat Ajnb Chan von jener
fernen Oasenstadt gegen die Engländer aus, die den Südwesten Afghanistans
besetzt halten. Sein Heer bestand aus 4000 Mann regulärer Infanterie, 1000
regulären Reitern und 30 Geschützen. Außerdem hatte er 3000 Mann irre¬
gulärer Cavallerie bei sich, die der Hauptarmee als Vorhut einen Tagemarsch
^oranzogen. Seine Artillerie bestand aus Kanonen verschiedenen Kalibers, die
im Lande selbst angefertigt, aber keineswegs schlecht waren, und einer aus
Europa bezogenen Batterie vierpfündiger Gebirgsgeschütze. Dieser Streitmacht
war als Ermuthigung zu ihrem Unternehmen die Plünderung Kandahars ver¬
heißen, welches seit seiner Besetzung durch die Briten wesentlich an Wohlstand
Zugenommen hatte. Der Glaube an den Sieg mit seinem Lohne war bei diesen
Kriegern so zuversichtlicher Art, daß viele derselben ihre Weiber und Kinder
"uf deu weiten Marsch mitnahmen.


Grenzlwten III. 1880. 34
England und die Niederlage bei Kandahar.

Die letzte Woche des Juli war eine Woche größter Aufregung für England,
und wenn die besorgte Stimmung sich seitdem gemildert und ruhigerer Ent¬
schlossenheit gegenüber einer schweren Gefahr Platz gemacht hat, so hat der Schlag,
der jene Aufregung veranlaßte, doch noch immer Bedenkliches genug, um Re¬
gierung und Publikum in England vor allen anderen Dingen zu beschäftigen.
Bei ihrer möglichen Rückwirkung auf europäische Fragen aber, auf den türkisch¬
griechischen Grenzstreit und den Bestand des Whigministeriums in London,
müssen auch wir von der Niederlage bei Kandahar, die der, welche die britische
Macht vor etwa Jahresfrist bei Jsandula durch König Cetewayos Kaffernkrieger
erlitt, an Bedeutung mindestens gleich steht, mit einiger Ausführlichkeit Notiz
nehmen. Betrachten wir zunächst das Thatsächliche, die Ereignisse und die
durch sie in Afghanistan für die englische Armee herbeigeführte Lage, und ver¬
suchen wir uns dann über die Folgen klar zu werden, welche diese Wendung
der Dinge wahrscheinlich haben oder nicht haben wird — nicht haben; denn
die Bedeutung der Sache ist im ersten Schreck oder, bei den Gegnern der
Politik Mr. Gladstones, in der ersten Freude offenbar stark übertrieben worden.

Um den 19. Juni rückte der Beherrscher von Herat Ajnb Chan von jener
fernen Oasenstadt gegen die Engländer aus, die den Südwesten Afghanistans
besetzt halten. Sein Heer bestand aus 4000 Mann regulärer Infanterie, 1000
regulären Reitern und 30 Geschützen. Außerdem hatte er 3000 Mann irre¬
gulärer Cavallerie bei sich, die der Hauptarmee als Vorhut einen Tagemarsch
^oranzogen. Seine Artillerie bestand aus Kanonen verschiedenen Kalibers, die
im Lande selbst angefertigt, aber keineswegs schlecht waren, und einer aus
Europa bezogenen Batterie vierpfündiger Gebirgsgeschütze. Dieser Streitmacht
war als Ermuthigung zu ihrem Unternehmen die Plünderung Kandahars ver¬
heißen, welches seit seiner Besetzung durch die Briten wesentlich an Wohlstand
Zugenommen hatte. Der Glaube an den Sieg mit seinem Lohne war bei diesen
Kriegern so zuversichtlicher Art, daß viele derselben ihre Weiber und Kinder
"uf deu weiten Marsch mitnahmen.


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[0262] England und die Niederlage bei Kandahar. Die letzte Woche des Juli war eine Woche größter Aufregung für England, und wenn die besorgte Stimmung sich seitdem gemildert und ruhigerer Ent¬ schlossenheit gegenüber einer schweren Gefahr Platz gemacht hat, so hat der Schlag, der jene Aufregung veranlaßte, doch noch immer Bedenkliches genug, um Re¬ gierung und Publikum in England vor allen anderen Dingen zu beschäftigen. Bei ihrer möglichen Rückwirkung auf europäische Fragen aber, auf den türkisch¬ griechischen Grenzstreit und den Bestand des Whigministeriums in London, müssen auch wir von der Niederlage bei Kandahar, die der, welche die britische Macht vor etwa Jahresfrist bei Jsandula durch König Cetewayos Kaffernkrieger erlitt, an Bedeutung mindestens gleich steht, mit einiger Ausführlichkeit Notiz nehmen. Betrachten wir zunächst das Thatsächliche, die Ereignisse und die durch sie in Afghanistan für die englische Armee herbeigeführte Lage, und ver¬ suchen wir uns dann über die Folgen klar zu werden, welche diese Wendung der Dinge wahrscheinlich haben oder nicht haben wird — nicht haben; denn die Bedeutung der Sache ist im ersten Schreck oder, bei den Gegnern der Politik Mr. Gladstones, in der ersten Freude offenbar stark übertrieben worden. Um den 19. Juni rückte der Beherrscher von Herat Ajnb Chan von jener fernen Oasenstadt gegen die Engländer aus, die den Südwesten Afghanistans besetzt halten. Sein Heer bestand aus 4000 Mann regulärer Infanterie, 1000 regulären Reitern und 30 Geschützen. Außerdem hatte er 3000 Mann irre¬ gulärer Cavallerie bei sich, die der Hauptarmee als Vorhut einen Tagemarsch ^oranzogen. Seine Artillerie bestand aus Kanonen verschiedenen Kalibers, die im Lande selbst angefertigt, aber keineswegs schlecht waren, und einer aus Europa bezogenen Batterie vierpfündiger Gebirgsgeschütze. Dieser Streitmacht war als Ermuthigung zu ihrem Unternehmen die Plünderung Kandahars ver¬ heißen, welches seit seiner Besetzung durch die Briten wesentlich an Wohlstand Zugenommen hatte. Der Glaube an den Sieg mit seinem Lohne war bei diesen Kriegern so zuversichtlicher Art, daß viele derselben ihre Weiber und Kinder "uf deu weiten Marsch mitnahmen. Grenzlwten III. 1880. 34

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/262>, abgerufen am 30.04.2024.