Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Zu Goethes Geburtstag.

"Früh im Stern spatzierend überlegt, wo und an welchen Ecken es mir
noch fehlt. Was ich dieß Jahr nicht gethan, nicht zu Stande gebracht. Ueber
gewisse Dinge mich so klar als möglich gemacht."

Am 28. August 1780 schrieb Goethe diese Zeilen in sein Tagebuch. Aus
seinem Gartenhäuschen war er in aller Frühe in die von ihm mit dem Herzog
gemeinsam geschaffenen Parkanlagen getreten, die jungen Bäume, die er gepflanzt,
grüßten mit leisem Rauschen, das Treiben der erwachenden Stadt drang von
ferne an sein Ohr. Auch er hatte "im lieben Thal" feste Wurzel gefaßt! Das
fühlte er in dieser Morgenstunde tief und innig, und indem die Vergangenheit
und die Zukunft an seinem inneren Auge vorüberging, gab er sich ernste Rechen¬
schaft über sich selbst. Das ist der hohe sittliche Zug in Goethes Leben, daß
er nimmer sich selbst genug gethan, daß er im höchsten Geistesfluge doch stets
sich erinnerte, daß er ein Mensch unter Menschen und daß er verpflichtet sei,
von dem Pfunde, das ihm anvertraut, einst Rechnung abzulegen. So konnte
er in demselben Jahre 1780 an den fernen Freund Lavater schreiben: "Das
Tagewerk das . mir aufgetragen ist, das mir täglich leichter und schwerer wird,
erfordert wachend und träumend meine Gegenwart, diese Pflicht wird mir täg¬
lich theurer, und darum wünscht ich's den größten Menschen gleich zu thun,
und in nichts größerm."

Heute, am 28. August 1880, sind hundert Jahre seit jener früh-einsamen
Geburtstagsfeier verflossen. Heute wissen wir, was Goethe für unser geliebtes
Baterland gewesen. Heute fühlen wir, daß er noch mit uns wandelt und
nimmermehr von uns verloren werden kann. Und so seien denn der stillen
Feier des heutigen Tages auch die folgenden, einstmals losen, nun gesammelten
Blätter gewidmet. Gerade vor hundert Jahren ist das erste geschrieben. Die
anderen begleiten uns ans dein Lebenswege des Dichters bis zu jener letzten
irdischen Liebe, die des Greises Herz so mächtig bewegt hat. Von den verschie-


Grenzbotcn III, 1330. ^
Zu Goethes Geburtstag.

„Früh im Stern spatzierend überlegt, wo und an welchen Ecken es mir
noch fehlt. Was ich dieß Jahr nicht gethan, nicht zu Stande gebracht. Ueber
gewisse Dinge mich so klar als möglich gemacht."

Am 28. August 1780 schrieb Goethe diese Zeilen in sein Tagebuch. Aus
seinem Gartenhäuschen war er in aller Frühe in die von ihm mit dem Herzog
gemeinsam geschaffenen Parkanlagen getreten, die jungen Bäume, die er gepflanzt,
grüßten mit leisem Rauschen, das Treiben der erwachenden Stadt drang von
ferne an sein Ohr. Auch er hatte „im lieben Thal" feste Wurzel gefaßt! Das
fühlte er in dieser Morgenstunde tief und innig, und indem die Vergangenheit
und die Zukunft an seinem inneren Auge vorüberging, gab er sich ernste Rechen¬
schaft über sich selbst. Das ist der hohe sittliche Zug in Goethes Leben, daß
er nimmer sich selbst genug gethan, daß er im höchsten Geistesfluge doch stets
sich erinnerte, daß er ein Mensch unter Menschen und daß er verpflichtet sei,
von dem Pfunde, das ihm anvertraut, einst Rechnung abzulegen. So konnte
er in demselben Jahre 1780 an den fernen Freund Lavater schreiben: „Das
Tagewerk das . mir aufgetragen ist, das mir täglich leichter und schwerer wird,
erfordert wachend und träumend meine Gegenwart, diese Pflicht wird mir täg¬
lich theurer, und darum wünscht ich's den größten Menschen gleich zu thun,
und in nichts größerm."

Heute, am 28. August 1880, sind hundert Jahre seit jener früh-einsamen
Geburtstagsfeier verflossen. Heute wissen wir, was Goethe für unser geliebtes
Baterland gewesen. Heute fühlen wir, daß er noch mit uns wandelt und
nimmermehr von uns verloren werden kann. Und so seien denn der stillen
Feier des heutigen Tages auch die folgenden, einstmals losen, nun gesammelten
Blätter gewidmet. Gerade vor hundert Jahren ist das erste geschrieben. Die
anderen begleiten uns ans dein Lebenswege des Dichters bis zu jener letzten
irdischen Liebe, die des Greises Herz so mächtig bewegt hat. Von den verschie-


Grenzbotcn III, 1330. ^
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0350" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147444"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Zu Goethes Geburtstag.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_932"> &#x201E;Früh im Stern spatzierend überlegt, wo und an welchen Ecken es mir<lb/>
noch fehlt. Was ich dieß Jahr nicht gethan, nicht zu Stande gebracht. Ueber<lb/>
gewisse Dinge mich so klar als möglich gemacht."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_933"> Am 28. August 1780 schrieb Goethe diese Zeilen in sein Tagebuch. Aus<lb/>
seinem Gartenhäuschen war er in aller Frühe in die von ihm mit dem Herzog<lb/>
gemeinsam geschaffenen Parkanlagen getreten, die jungen Bäume, die er gepflanzt,<lb/>
grüßten mit leisem Rauschen, das Treiben der erwachenden Stadt drang von<lb/>
ferne an sein Ohr. Auch er hatte &#x201E;im lieben Thal" feste Wurzel gefaßt! Das<lb/>
fühlte er in dieser Morgenstunde tief und innig, und indem die Vergangenheit<lb/>
und die Zukunft an seinem inneren Auge vorüberging, gab er sich ernste Rechen¬<lb/>
schaft über sich selbst. Das ist der hohe sittliche Zug in Goethes Leben, daß<lb/>
er nimmer sich selbst genug gethan, daß er im höchsten Geistesfluge doch stets<lb/>
sich erinnerte, daß er ein Mensch unter Menschen und daß er verpflichtet sei,<lb/>
von dem Pfunde, das ihm anvertraut, einst Rechnung abzulegen. So konnte<lb/>
er in demselben Jahre 1780 an den fernen Freund Lavater schreiben: &#x201E;Das<lb/>
Tagewerk das . mir aufgetragen ist, das mir täglich leichter und schwerer wird,<lb/>
erfordert wachend und träumend meine Gegenwart, diese Pflicht wird mir täg¬<lb/>
lich theurer, und darum wünscht ich's den größten Menschen gleich zu thun,<lb/>
und in nichts größerm."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_934" next="#ID_935"> Heute, am 28. August 1880, sind hundert Jahre seit jener früh-einsamen<lb/>
Geburtstagsfeier verflossen. Heute wissen wir, was Goethe für unser geliebtes<lb/>
Baterland gewesen. Heute fühlen wir, daß er noch mit uns wandelt und<lb/>
nimmermehr von uns verloren werden kann. Und so seien denn der stillen<lb/>
Feier des heutigen Tages auch die folgenden, einstmals losen, nun gesammelten<lb/>
Blätter gewidmet. Gerade vor hundert Jahren ist das erste geschrieben. Die<lb/>
anderen begleiten uns ans dein Lebenswege des Dichters bis zu jener letzten<lb/>
irdischen Liebe, die des Greises Herz so mächtig bewegt hat. Von den verschie-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbotcn III, 1330. ^</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0350] Zu Goethes Geburtstag. „Früh im Stern spatzierend überlegt, wo und an welchen Ecken es mir noch fehlt. Was ich dieß Jahr nicht gethan, nicht zu Stande gebracht. Ueber gewisse Dinge mich so klar als möglich gemacht." Am 28. August 1780 schrieb Goethe diese Zeilen in sein Tagebuch. Aus seinem Gartenhäuschen war er in aller Frühe in die von ihm mit dem Herzog gemeinsam geschaffenen Parkanlagen getreten, die jungen Bäume, die er gepflanzt, grüßten mit leisem Rauschen, das Treiben der erwachenden Stadt drang von ferne an sein Ohr. Auch er hatte „im lieben Thal" feste Wurzel gefaßt! Das fühlte er in dieser Morgenstunde tief und innig, und indem die Vergangenheit und die Zukunft an seinem inneren Auge vorüberging, gab er sich ernste Rechen¬ schaft über sich selbst. Das ist der hohe sittliche Zug in Goethes Leben, daß er nimmer sich selbst genug gethan, daß er im höchsten Geistesfluge doch stets sich erinnerte, daß er ein Mensch unter Menschen und daß er verpflichtet sei, von dem Pfunde, das ihm anvertraut, einst Rechnung abzulegen. So konnte er in demselben Jahre 1780 an den fernen Freund Lavater schreiben: „Das Tagewerk das . mir aufgetragen ist, das mir täglich leichter und schwerer wird, erfordert wachend und träumend meine Gegenwart, diese Pflicht wird mir täg¬ lich theurer, und darum wünscht ich's den größten Menschen gleich zu thun, und in nichts größerm." Heute, am 28. August 1880, sind hundert Jahre seit jener früh-einsamen Geburtstagsfeier verflossen. Heute wissen wir, was Goethe für unser geliebtes Baterland gewesen. Heute fühlen wir, daß er noch mit uns wandelt und nimmermehr von uns verloren werden kann. Und so seien denn der stillen Feier des heutigen Tages auch die folgenden, einstmals losen, nun gesammelten Blätter gewidmet. Gerade vor hundert Jahren ist das erste geschrieben. Die anderen begleiten uns ans dein Lebenswege des Dichters bis zu jener letzten irdischen Liebe, die des Greises Herz so mächtig bewegt hat. Von den verschie- Grenzbotcn III, 1330. ^

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/350
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/350>, abgerufen am 30.04.2024.