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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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und beschmutzten ihre Kameraden -- unter die sie sich drängten, gleich als ob
sie sich hier an den Lebensbaum fest anklammern wollten -- mit ihrem Un-
rathe. Sie kamen zum Theil, wiederholt in die Sterbekammer zurückgebracht,
wohl drei bis vier Mal zurück, wälzten sich über andere, dem Verscheiden ebenso
nahestehende her und wurden früh, wenn der Tag anbrach, entseelt gefunden,
Leichen auf Leichen.

Mir nebst zwei anderen Kameraden lag die Erfüllung der traurigen Pflicht
ob, an jedem Morgen unter dem Befehle eines eintretenden Russen die Leich¬
name herunter in den Hof zu schaffen. Des engen Raumes wegen konnten sie
dort nicht neben, sondern nur aufeinander gelegt werden, so daß sie, in zwei
Reihen aufgeschichtet und hart gefroren, zwei Barrieren bildeten, zwischen welchen
man, wenn man von außen her durch den Hof zum Gebäude gelangen wollte,
hindurchgehen mußte. So lange der Frost dauerte, war der Aufenthalt unter
den aus Leichen gebildeten Hügeln und der Durchgang durch diese erträglich.
Als aber Thauwetter eintrat, stürzten die Haufen zusammen, der Durchgang
wurde versperrt, und es verbreitete sich der entsetzlichste Geruch, der selbst die
wachthabenden Druschinen verscheuchte. Nur die Juden und der übrige Pöbel
fanden diesen Gestank erträglich. Nicht mehr durch die hier aufgestellt gewesene
Wache gehindert, drangen diese Leute durch den Hof über die fast flüssig ge¬
wordenen Leichen hinweg in die Säle, um die Kranken zu plündern.

Die Kunde von unserem bis zur gräßlichsten Hohe gesteigerten Nothstande
war endlich zum Großfürsten gedrungen und hatte zur Folge, daß er eines
Tages, als mein Beruf, für meine kranken Kameraden und mich die stärkende
und labende Fleischbrühe abzuholen, mich abermals in seine Nähe geführt hatte,
mir mit wohlthuender Leutseligkeit ankündigte, daß die Gefangenen in ein bes¬
seres Klima versetzt werden sollten. Diese trostreiche Ankündigung, wie erhei¬
terte sie mein kummergepreßtes Herz! Wie eilte ich, meinen dem Abgrunde der
Verzweiflung nahen Kriegsgefährten die erhaltene hocherfreuliche Nachricht mit¬
zutheilen! Welch ein erquickender Hoffnungsstrahl senkte sich, als ich in ihrer
jammervollen Mitte die großfürstliche Aeußerung verkündete, in ihre vom schwer¬
sten Grame umdüsterten Gemüther!


6.
Auf dem Transporte bis Pleskow.

Mit 60 Mann ungefähr, welche transportfähig waren, begab ich mich, der
empfangenen Ordre gemäß, zur Wohnung des Großfürsten. Trotz unseren
Schreckensgestalten, trotz dem von uns ausgehenden Leichengeruch und der Ge¬
fahr der Ansteckung ließ er sich uns vorstellen. Aus seinen Blicken und Worten


und beschmutzten ihre Kameraden — unter die sie sich drängten, gleich als ob
sie sich hier an den Lebensbaum fest anklammern wollten — mit ihrem Un-
rathe. Sie kamen zum Theil, wiederholt in die Sterbekammer zurückgebracht,
wohl drei bis vier Mal zurück, wälzten sich über andere, dem Verscheiden ebenso
nahestehende her und wurden früh, wenn der Tag anbrach, entseelt gefunden,
Leichen auf Leichen.

Mir nebst zwei anderen Kameraden lag die Erfüllung der traurigen Pflicht
ob, an jedem Morgen unter dem Befehle eines eintretenden Russen die Leich¬
name herunter in den Hof zu schaffen. Des engen Raumes wegen konnten sie
dort nicht neben, sondern nur aufeinander gelegt werden, so daß sie, in zwei
Reihen aufgeschichtet und hart gefroren, zwei Barrieren bildeten, zwischen welchen
man, wenn man von außen her durch den Hof zum Gebäude gelangen wollte,
hindurchgehen mußte. So lange der Frost dauerte, war der Aufenthalt unter
den aus Leichen gebildeten Hügeln und der Durchgang durch diese erträglich.
Als aber Thauwetter eintrat, stürzten die Haufen zusammen, der Durchgang
wurde versperrt, und es verbreitete sich der entsetzlichste Geruch, der selbst die
wachthabenden Druschinen verscheuchte. Nur die Juden und der übrige Pöbel
fanden diesen Gestank erträglich. Nicht mehr durch die hier aufgestellt gewesene
Wache gehindert, drangen diese Leute durch den Hof über die fast flüssig ge¬
wordenen Leichen hinweg in die Säle, um die Kranken zu plündern.

Die Kunde von unserem bis zur gräßlichsten Hohe gesteigerten Nothstande
war endlich zum Großfürsten gedrungen und hatte zur Folge, daß er eines
Tages, als mein Beruf, für meine kranken Kameraden und mich die stärkende
und labende Fleischbrühe abzuholen, mich abermals in seine Nähe geführt hatte,
mir mit wohlthuender Leutseligkeit ankündigte, daß die Gefangenen in ein bes¬
seres Klima versetzt werden sollten. Diese trostreiche Ankündigung, wie erhei¬
terte sie mein kummergepreßtes Herz! Wie eilte ich, meinen dem Abgrunde der
Verzweiflung nahen Kriegsgefährten die erhaltene hocherfreuliche Nachricht mit¬
zutheilen! Welch ein erquickender Hoffnungsstrahl senkte sich, als ich in ihrer
jammervollen Mitte die großfürstliche Aeußerung verkündete, in ihre vom schwer¬
sten Grame umdüsterten Gemüther!


6.
Auf dem Transporte bis Pleskow.

Mit 60 Mann ungefähr, welche transportfähig waren, begab ich mich, der
empfangenen Ordre gemäß, zur Wohnung des Großfürsten. Trotz unseren
Schreckensgestalten, trotz dem von uns ausgehenden Leichengeruch und der Ge¬
fahr der Ansteckung ließ er sich uns vorstellen. Aus seinen Blicken und Worten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/408>, abgerufen am 30.04.2024.