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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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in Zusammenhang steht: auf deu allzu überwiegenden Expansionstrieb unseres
geistigen Lebens, bei dein zwar extensiv Erstannliches geleistet wird, damit zu¬
gleich aber die innere Sammlung und Gediegenheit und auch die wahre herz¬
liche Befriedigung nnr zu vielen verloren geht. Daher hätte er seine gehalt¬
volle, lesens-'und beherzigenswerthe Broschüre nicht besser schließen können als
mit den trefflichen Worten: "Wohl wäre aufs dringendste zu wünschen, daß
unserem Volke in nicht zu ferner Frist beschieden sein möge, die großen Auf¬
gaben, deren Lösung die Gegenwart von ihm fordert, beendigt zu fehen, damit
es in stillerer Sammlung der nicht minder großen, wenn auch viel unscheiu-
barcren, der Erziehung des heranwachsenden Geschlechtes, wieder regeren Eifer
widmen könnte! Möchte doch sonst selbst der Tag kommen, an dem der ans
das Ente und Unwürdige gerichtete Sinn einer nachkommenden Generation
gerade das, was wir in harter Arbeit erworben und geschaffen, den entnervten
Händen wieder entsinken läßt."




Literatur.

Geschichte des Pietismus. Von Albrecht Ritschl. Erster Band. Der
Pietismus in der reformirten Kirche. Bonn, A Marcus, 1880.

Diese neueste Geschichte des Pietismus ist von besonderem Interesse wegen der
hervorragenden und eigenartigen Stellung, die der Verfasser derselben innerhalb der
protestantischen Theologie der Gegenwart einnimmt. Professor Ritschl in Göttingen
geht von dem Grundgedanken aus, daß "das Sittliche jene Wirklichkeit sei, deren
Anerkennung von jedem Menschen gefordert, die aber ohne die Welt des Glaubens
auf keine Weise vollständig gedacht oder gar praktisch werden könne." Er sieht
also in der Sittlichkeit das Wesentliche der Religion -- weshalb man die ganze
Richtung auch als den kirchlichen Neukantianismus bezeichnet hat --, und zwar ist
nach ihm die Sittlichkeit nicht bloß mit dem Glauben aufs engste verknüpft, son¬
dern sie kann ohne denselben überhaupt gar nicht vorhanden sein. Sonach kann
allein die Religion und die Grundform ihrer Bethätigung, d. h. ein auf göttliche
Offenbarung gegründeter Glaube, die für den Menschen, und zwar zur Erzie¬
lung sittlichen Handelns nöthige Erkenntniß darbieten, welche die philosophische
Metaphysik mit unzureichenden Mitteln und deshalb ohne Erfolg erstrebt. In diesem
durchaus religiös gearteten Grundprincip, welches in der Mitte steht zwischen dem
reinen, unvermittelter Offenbarungsglcmbcn der orthodoxen Theologie und der auf
philosophischer Grundlage aufgebauten und philosophisch vermittelten Reflexionen
über den Gehalt des religiösen Gemüthslebens von Seiten der liberalen Theologen,
beruht die Bedeutung des Ritschlschm Standpunktes. Ihre Lebensfähigkeit hat diese
neue, ihrem Wesen nach vermittelnde Richtung bis jetzt dadurch documentirt, daß
sie viele und begeisterte Anhänger gefunden hat und daß sie auch für die theolo¬
gische Wissenschaft von belebendem Einfluß gewesen ist. Vor allem hat Ritschl selbst
seinen Standpunkt in einer Reihe bedeutsamer Schriften entwickelt und vertreten.
Außer in seinem grundlegenden Werke: "Die christliche Lehre von der Rechtferti-


in Zusammenhang steht: auf deu allzu überwiegenden Expansionstrieb unseres
geistigen Lebens, bei dein zwar extensiv Erstannliches geleistet wird, damit zu¬
gleich aber die innere Sammlung und Gediegenheit und auch die wahre herz¬
liche Befriedigung nnr zu vielen verloren geht. Daher hätte er seine gehalt¬
volle, lesens-'und beherzigenswerthe Broschüre nicht besser schließen können als
mit den trefflichen Worten: „Wohl wäre aufs dringendste zu wünschen, daß
unserem Volke in nicht zu ferner Frist beschieden sein möge, die großen Auf¬
gaben, deren Lösung die Gegenwart von ihm fordert, beendigt zu fehen, damit
es in stillerer Sammlung der nicht minder großen, wenn auch viel unscheiu-
barcren, der Erziehung des heranwachsenden Geschlechtes, wieder regeren Eifer
widmen könnte! Möchte doch sonst selbst der Tag kommen, an dem der ans
das Ente und Unwürdige gerichtete Sinn einer nachkommenden Generation
gerade das, was wir in harter Arbeit erworben und geschaffen, den entnervten
Händen wieder entsinken läßt."




Literatur.

Geschichte des Pietismus. Von Albrecht Ritschl. Erster Band. Der
Pietismus in der reformirten Kirche. Bonn, A Marcus, 1880.

Diese neueste Geschichte des Pietismus ist von besonderem Interesse wegen der
hervorragenden und eigenartigen Stellung, die der Verfasser derselben innerhalb der
protestantischen Theologie der Gegenwart einnimmt. Professor Ritschl in Göttingen
geht von dem Grundgedanken aus, daß „das Sittliche jene Wirklichkeit sei, deren
Anerkennung von jedem Menschen gefordert, die aber ohne die Welt des Glaubens
auf keine Weise vollständig gedacht oder gar praktisch werden könne." Er sieht
also in der Sittlichkeit das Wesentliche der Religion — weshalb man die ganze
Richtung auch als den kirchlichen Neukantianismus bezeichnet hat —, und zwar ist
nach ihm die Sittlichkeit nicht bloß mit dem Glauben aufs engste verknüpft, son¬
dern sie kann ohne denselben überhaupt gar nicht vorhanden sein. Sonach kann
allein die Religion und die Grundform ihrer Bethätigung, d. h. ein auf göttliche
Offenbarung gegründeter Glaube, die für den Menschen, und zwar zur Erzie¬
lung sittlichen Handelns nöthige Erkenntniß darbieten, welche die philosophische
Metaphysik mit unzureichenden Mitteln und deshalb ohne Erfolg erstrebt. In diesem
durchaus religiös gearteten Grundprincip, welches in der Mitte steht zwischen dem
reinen, unvermittelter Offenbarungsglcmbcn der orthodoxen Theologie und der auf
philosophischer Grundlage aufgebauten und philosophisch vermittelten Reflexionen
über den Gehalt des religiösen Gemüthslebens von Seiten der liberalen Theologen,
beruht die Bedeutung des Ritschlschm Standpunktes. Ihre Lebensfähigkeit hat diese
neue, ihrem Wesen nach vermittelnde Richtung bis jetzt dadurch documentirt, daß
sie viele und begeisterte Anhänger gefunden hat und daß sie auch für die theolo¬
gische Wissenschaft von belebendem Einfluß gewesen ist. Vor allem hat Ritschl selbst
seinen Standpunkt in einer Reihe bedeutsamer Schriften entwickelt und vertreten.
Außer in seinem grundlegenden Werke: „Die christliche Lehre von der Rechtferti-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/467>, abgerufen am 30.04.2024.