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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Und ebenso fehlte ihm jeder Maßstab für die Quellen und die Energie einer
nationalen Begeisterung. Schien sie doch durch materielle Gewalt unterdrückt
werden zu können! .... Es war unmöglich, sich weiter von dem Boden des
realen Daseins zu entfernen, als er es durch diese Geringschätzung der idealen
Kräfte that. Er kannte sie nicht im eigenen Innern; deshalb verkannte er sie
bei den anderen Menschen und häufte mit eigener Hand die Zündstoffe, welche
einst sein stolzes Machtgebäude in die Luft sprengen sollten."

Was von Sybels übrigen Arbeiten gilt, kann in erhöhtem Maße von seiner
Geschichte der Revolutionszeit gesagt werden. Feine Charakterisirung der han¬
delnden Personen, klare und übersichtliche Darstellung der diplomatischen und
militärischen Actionen wie der geistigen und nationalen Bewegungen, eingehende
Sicherheit des politischen Urtheils und bei aller Unparteilichkeit positive Wärme
und intensive Kraft des nationalen Gefühls sind ebenso an dem Werke zu
rühmen, wie die treffliche Gruppirung des Stoffes, der treffende Ausdruck und
die künstlerische Vollendung der Form. So ist Sybels nun vollendetes Ge¬
schichtswerk nicht nur für die Erkenntniß jener großen Bewegung, unter deren
Einflüssen wir noch stehen, von höchster Bedeutung, sondern es nimmt auch in
der Geschichte der Historiographie die Stelle eines Meisterwerkes von erstem
Range ein.




Lord Veaconsfield,
ein Romantiker in Poesie und Politik.
i.

In kritischen Zeiten, wie sie einer großen Umwälzung vorausgehen, pflegen
sich die sonderbarsten Charaktere in den Vordergrund zu drängen; die Tradi¬
tion, in der die Menschheit eine geraume Zeit gelebt hat und deren sie über¬
drüssig geworden, wird auf allen Enden durchbrochen, die Neubegier wird fieberhaft,
das Abstruseste wird leidenschaftlich willkommen geheißen, Aberglaube und Ver¬
stand verirren sich bis in ihre entgegengesetzten Pole, und aus wild gährenden
Elementen gebiert sich eine neue Gestalt der Gesellschaft. So war es vor der
Reformation, fo vor der Revolution des 18. Jahrhunderts, und eben dazu
scheint sich auch heute wieder alles anzulassen; Darwinismus, Spiritismus,
Socialismus, Nihilismus und Semitismus geben unserer Zeit ein so eigenthüm¬
liches Aussehen, daß der zukünftige Geschichtsfreund sich mit Verwunderung


Und ebenso fehlte ihm jeder Maßstab für die Quellen und die Energie einer
nationalen Begeisterung. Schien sie doch durch materielle Gewalt unterdrückt
werden zu können! .... Es war unmöglich, sich weiter von dem Boden des
realen Daseins zu entfernen, als er es durch diese Geringschätzung der idealen
Kräfte that. Er kannte sie nicht im eigenen Innern; deshalb verkannte er sie
bei den anderen Menschen und häufte mit eigener Hand die Zündstoffe, welche
einst sein stolzes Machtgebäude in die Luft sprengen sollten."

Was von Sybels übrigen Arbeiten gilt, kann in erhöhtem Maße von seiner
Geschichte der Revolutionszeit gesagt werden. Feine Charakterisirung der han¬
delnden Personen, klare und übersichtliche Darstellung der diplomatischen und
militärischen Actionen wie der geistigen und nationalen Bewegungen, eingehende
Sicherheit des politischen Urtheils und bei aller Unparteilichkeit positive Wärme
und intensive Kraft des nationalen Gefühls sind ebenso an dem Werke zu
rühmen, wie die treffliche Gruppirung des Stoffes, der treffende Ausdruck und
die künstlerische Vollendung der Form. So ist Sybels nun vollendetes Ge¬
schichtswerk nicht nur für die Erkenntniß jener großen Bewegung, unter deren
Einflüssen wir noch stehen, von höchster Bedeutung, sondern es nimmt auch in
der Geschichte der Historiographie die Stelle eines Meisterwerkes von erstem
Range ein.




Lord Veaconsfield,
ein Romantiker in Poesie und Politik.
i.

In kritischen Zeiten, wie sie einer großen Umwälzung vorausgehen, pflegen
sich die sonderbarsten Charaktere in den Vordergrund zu drängen; die Tradi¬
tion, in der die Menschheit eine geraume Zeit gelebt hat und deren sie über¬
drüssig geworden, wird auf allen Enden durchbrochen, die Neubegier wird fieberhaft,
das Abstruseste wird leidenschaftlich willkommen geheißen, Aberglaube und Ver¬
stand verirren sich bis in ihre entgegengesetzten Pole, und aus wild gährenden
Elementen gebiert sich eine neue Gestalt der Gesellschaft. So war es vor der
Reformation, fo vor der Revolution des 18. Jahrhunderts, und eben dazu
scheint sich auch heute wieder alles anzulassen; Darwinismus, Spiritismus,
Socialismus, Nihilismus und Semitismus geben unserer Zeit ein so eigenthüm¬
liches Aussehen, daß der zukünftige Geschichtsfreund sich mit Verwunderung


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[0474] Und ebenso fehlte ihm jeder Maßstab für die Quellen und die Energie einer nationalen Begeisterung. Schien sie doch durch materielle Gewalt unterdrückt werden zu können! .... Es war unmöglich, sich weiter von dem Boden des realen Daseins zu entfernen, als er es durch diese Geringschätzung der idealen Kräfte that. Er kannte sie nicht im eigenen Innern; deshalb verkannte er sie bei den anderen Menschen und häufte mit eigener Hand die Zündstoffe, welche einst sein stolzes Machtgebäude in die Luft sprengen sollten." Was von Sybels übrigen Arbeiten gilt, kann in erhöhtem Maße von seiner Geschichte der Revolutionszeit gesagt werden. Feine Charakterisirung der han¬ delnden Personen, klare und übersichtliche Darstellung der diplomatischen und militärischen Actionen wie der geistigen und nationalen Bewegungen, eingehende Sicherheit des politischen Urtheils und bei aller Unparteilichkeit positive Wärme und intensive Kraft des nationalen Gefühls sind ebenso an dem Werke zu rühmen, wie die treffliche Gruppirung des Stoffes, der treffende Ausdruck und die künstlerische Vollendung der Form. So ist Sybels nun vollendetes Ge¬ schichtswerk nicht nur für die Erkenntniß jener großen Bewegung, unter deren Einflüssen wir noch stehen, von höchster Bedeutung, sondern es nimmt auch in der Geschichte der Historiographie die Stelle eines Meisterwerkes von erstem Range ein. Lord Veaconsfield, ein Romantiker in Poesie und Politik. i. In kritischen Zeiten, wie sie einer großen Umwälzung vorausgehen, pflegen sich die sonderbarsten Charaktere in den Vordergrund zu drängen; die Tradi¬ tion, in der die Menschheit eine geraume Zeit gelebt hat und deren sie über¬ drüssig geworden, wird auf allen Enden durchbrochen, die Neubegier wird fieberhaft, das Abstruseste wird leidenschaftlich willkommen geheißen, Aberglaube und Ver¬ stand verirren sich bis in ihre entgegengesetzten Pole, und aus wild gährenden Elementen gebiert sich eine neue Gestalt der Gesellschaft. So war es vor der Reformation, fo vor der Revolution des 18. Jahrhunderts, und eben dazu scheint sich auch heute wieder alles anzulassen; Darwinismus, Spiritismus, Socialismus, Nihilismus und Semitismus geben unserer Zeit ein so eigenthüm¬ liches Aussehen, daß der zukünftige Geschichtsfreund sich mit Verwunderung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/474>, abgerufen am 30.04.2024.