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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Ver Parlamentarismu5 in England.

Böse als nicht vorhanden, als eingebildet übersehen und verlachen kann. Diese
Schilderung der wechselnden Empfindungen in ihrer Brust ist ein Meisterstück
Lcssingscher Kunst. So drückt auch Goethes Gretchen, als sie ebenfalls schon
vom Bösen umfangen ist -- freilich in einem andern, mehr mystischen Sinne
umfangen ist -- zuerst ihre Angst aus mit den Worten: "Mir läuft ein Schauer
übern ganzen Leib," um dann sich selbst verspottend unvermittelt hinzuzufügen:
"Bin doch ein thöricht furchtsam Weib!" (Schluß folgt.)




Der Parlamentarismus in England.

!er Londoner Philister wird auf die Frage, wer England regiere,
ohne Verzug und Bedenken antworten: Natürlich die Presse, die
öffentliche Meinung, und die große Mehrzahl der deutschen Libe¬
ralen wird das glauben. Preßfreiheit und Parlamentarismus ge¬
höre" nach deren Credo ja zueinander wie die siamesischen Zwillinge.
! In Wirklichkeit sind in England alle Beschränkungen der Preßfreiheit
vom Parlamente ausgegangen, wozu allerdings zu bemerken ist, daß keine Regierung
eine Presse vertragen kaun, die ungehindert und ungestraft thun könnte, was ihr
beliebt. Selbst Milton hat sich gegen diese Presse muss allerentschiedenste aus¬
gesprochen; er nennt freche Zeitungsscribcnten "Missethäter" und will "schärfste
Justiz" gegen sie geübt wissen. Er meint: "Bücher sind nicht ganz todte Dinge,
sondern enthalten eine Lcbcnspotcnz, dazu angethan, so thätig zu sein, wie die
Seele, deren Kinder sie sind, ja sie bewahren wie in einer Phiole die reinste Wir¬
kung und Essenz des lebendigen Geistes, der sie erzeugte." Das Unterhaus erklärte
einmal, Schriften, die das Haus oder ein Mitglied desselben tadelten, seien eine
grobe Verletzung seiner Privilegien, und noch in der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts maßte es sich das Recht an, Verletzungen derart mit knieender Ab¬
bitte oder gar mit Auspeitschnng am Schinderkarren zu ahnden.

Es ist wahr, unter dem englischen Parlamentarismus gab es für die Zeitungen
niemals eine Censur, wohl aber im Statuts l^w indirecte Daumenschrauben mehr
als genng. Eine davon war der Zeitungsstempel, der erst vor zwanzig und einigen
Jahren aufgehoben wurde, nachdem er dem Zwecke gedient, die wohlfeile politische
Presse nicht aufkommen zu lassen. Das Parlament hat sich stets mehr oder minder
feindlich gegen diese letztere Verhalten, weil sie Klassen und Interessen vertrat,
welche im Parlamente keine Stimme hatten. Es duldete die andre und vertrug
sich meist gut mit ihr, erhielt sie aber rechtlich in precärer Stellung. Die Siege,


Ver Parlamentarismu5 in England.

Böse als nicht vorhanden, als eingebildet übersehen und verlachen kann. Diese
Schilderung der wechselnden Empfindungen in ihrer Brust ist ein Meisterstück
Lcssingscher Kunst. So drückt auch Goethes Gretchen, als sie ebenfalls schon
vom Bösen umfangen ist — freilich in einem andern, mehr mystischen Sinne
umfangen ist — zuerst ihre Angst aus mit den Worten: „Mir läuft ein Schauer
übern ganzen Leib," um dann sich selbst verspottend unvermittelt hinzuzufügen:
„Bin doch ein thöricht furchtsam Weib!" (Schluß folgt.)




Der Parlamentarismus in England.

!er Londoner Philister wird auf die Frage, wer England regiere,
ohne Verzug und Bedenken antworten: Natürlich die Presse, die
öffentliche Meinung, und die große Mehrzahl der deutschen Libe¬
ralen wird das glauben. Preßfreiheit und Parlamentarismus ge¬
höre» nach deren Credo ja zueinander wie die siamesischen Zwillinge.
! In Wirklichkeit sind in England alle Beschränkungen der Preßfreiheit
vom Parlamente ausgegangen, wozu allerdings zu bemerken ist, daß keine Regierung
eine Presse vertragen kaun, die ungehindert und ungestraft thun könnte, was ihr
beliebt. Selbst Milton hat sich gegen diese Presse muss allerentschiedenste aus¬
gesprochen; er nennt freche Zeitungsscribcnten „Missethäter" und will „schärfste
Justiz" gegen sie geübt wissen. Er meint: „Bücher sind nicht ganz todte Dinge,
sondern enthalten eine Lcbcnspotcnz, dazu angethan, so thätig zu sein, wie die
Seele, deren Kinder sie sind, ja sie bewahren wie in einer Phiole die reinste Wir¬
kung und Essenz des lebendigen Geistes, der sie erzeugte." Das Unterhaus erklärte
einmal, Schriften, die das Haus oder ein Mitglied desselben tadelten, seien eine
grobe Verletzung seiner Privilegien, und noch in der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts maßte es sich das Recht an, Verletzungen derart mit knieender Ab¬
bitte oder gar mit Auspeitschnng am Schinderkarren zu ahnden.

Es ist wahr, unter dem englischen Parlamentarismus gab es für die Zeitungen
niemals eine Censur, wohl aber im Statuts l^w indirecte Daumenschrauben mehr
als genng. Eine davon war der Zeitungsstempel, der erst vor zwanzig und einigen
Jahren aufgehoben wurde, nachdem er dem Zwecke gedient, die wohlfeile politische
Presse nicht aufkommen zu lassen. Das Parlament hat sich stets mehr oder minder
feindlich gegen diese letztere Verhalten, weil sie Klassen und Interessen vertrat,
welche im Parlamente keine Stimme hatten. Es duldete die andre und vertrug
sich meist gut mit ihr, erhielt sie aber rechtlich in precärer Stellung. Die Siege,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/312>, abgerufen am 29.04.2024.