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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Neues Nönchthum.

se die Welt wirklich so schlecht, daß, wer den Verzicht auf ihre
Gitter predigt und zur Flucht in die Studirstube räth, sich für
einen Freund der Welt ausgeben darf? Und ist der ein Menschen¬
freund, der auf alles, was das Leben der meisten thatsächlich er¬
füllt, mit Verachtung blickt, dagegen die nnr einer geringen An¬
zahl möglichen Bemühungen um Erkenntniß-Gewinnung als einzigen lohnenden
Lebensinhalt anpreist?

Die Verleumdung der Welt, der gegenüber Entsagung das Beste sei, und
die gleichzeitige Ueberschätzung der ewig mit sich selbst beschäftigten Meditation
ist nicht neu und als eine Wiederbelebung indischer Selbsttäuschung auch nicht
interessant, aber neu ist, daß ein Vertreter dieses Standpunktes, ein Mann, der
in die dein höchsten Alter allein zukommende "Herzensstille und wunschlose Ruhe
des Gemüths" die Glückseligkeit setzt und damit das eigentliche Dasein zwischen
Geburt und Tod verurtheilt, für die Welt und für das Leben zu sprechen meint
und nicht gewahr wird, daß er selbst jener Krankheit, jenem in System gebrachten
Verfolgungswahnsinn, dem Pessimismus verfallen ist, den er zu bekämpfen trachtet.
Der Pessimist, der als solcher auftritt, verdient nicht ohne weiteres Beachtung,
aber derjenige Schriftsteller, der anscheinend die Pessimisten befehdet und doch,
ohne es sich klar zu machen, zu ihnen gehört, ist eine interessante und -- nicht
ganz ungefährliche Erscheinung,

Ein Herr B. M, W, Koch ist mit einer im Jahre 1880 bei Mrvse er¬
schienenen Schrift "Ueber die rechte Gestalt des individuellen Daseins,
mit besonderer Berücksichtigung der Religion. Eine Welt- und menschenfreund¬
liche Betrachtung" in die schwebenden Verhandlungen über das Für und Wider des
Lebens und der Welt eingetreten. Da in dem literarischen Streite zwischen der
optimistischen Versöhnung mit dem Dasein und der pessimistischen Verwerfung
desselben die Betheiligung eine ungleiche ist und die Lebensfeinde zahlreich find,
so würde uns ein neuer Bertheidiger des Lebens willkommen sein; aber den
können wir nicht willkommen heißen, der zwar Miene macht, für uns zu kämpfen,
in Wahrheit aber zu den Gegnern gehört.

Wer es unternimmt, die rechte Gestalt für das Dasein des einzelnen aufzu¬
zeigen, der muß ein Vcwnßtsein haben von der Wichtigkeit und den Konsequenzen
seines Thuns, Wenn er als normal und wünschenswert!) ein Dasein schildert,
wie es thatsächlich für die meisten Menschen verläuft und für alle verlaufen


Neues Nönchthum.

se die Welt wirklich so schlecht, daß, wer den Verzicht auf ihre
Gitter predigt und zur Flucht in die Studirstube räth, sich für
einen Freund der Welt ausgeben darf? Und ist der ein Menschen¬
freund, der auf alles, was das Leben der meisten thatsächlich er¬
füllt, mit Verachtung blickt, dagegen die nnr einer geringen An¬
zahl möglichen Bemühungen um Erkenntniß-Gewinnung als einzigen lohnenden
Lebensinhalt anpreist?

Die Verleumdung der Welt, der gegenüber Entsagung das Beste sei, und
die gleichzeitige Ueberschätzung der ewig mit sich selbst beschäftigten Meditation
ist nicht neu und als eine Wiederbelebung indischer Selbsttäuschung auch nicht
interessant, aber neu ist, daß ein Vertreter dieses Standpunktes, ein Mann, der
in die dein höchsten Alter allein zukommende „Herzensstille und wunschlose Ruhe
des Gemüths" die Glückseligkeit setzt und damit das eigentliche Dasein zwischen
Geburt und Tod verurtheilt, für die Welt und für das Leben zu sprechen meint
und nicht gewahr wird, daß er selbst jener Krankheit, jenem in System gebrachten
Verfolgungswahnsinn, dem Pessimismus verfallen ist, den er zu bekämpfen trachtet.
Der Pessimist, der als solcher auftritt, verdient nicht ohne weiteres Beachtung,
aber derjenige Schriftsteller, der anscheinend die Pessimisten befehdet und doch,
ohne es sich klar zu machen, zu ihnen gehört, ist eine interessante und — nicht
ganz ungefährliche Erscheinung,

Ein Herr B. M, W, Koch ist mit einer im Jahre 1880 bei Mrvse er¬
schienenen Schrift „Ueber die rechte Gestalt des individuellen Daseins,
mit besonderer Berücksichtigung der Religion. Eine Welt- und menschenfreund¬
liche Betrachtung" in die schwebenden Verhandlungen über das Für und Wider des
Lebens und der Welt eingetreten. Da in dem literarischen Streite zwischen der
optimistischen Versöhnung mit dem Dasein und der pessimistischen Verwerfung
desselben die Betheiligung eine ungleiche ist und die Lebensfeinde zahlreich find,
so würde uns ein neuer Bertheidiger des Lebens willkommen sein; aber den
können wir nicht willkommen heißen, der zwar Miene macht, für uns zu kämpfen,
in Wahrheit aber zu den Gegnern gehört.

Wer es unternimmt, die rechte Gestalt für das Dasein des einzelnen aufzu¬
zeigen, der muß ein Vcwnßtsein haben von der Wichtigkeit und den Konsequenzen
seines Thuns, Wenn er als normal und wünschenswert!) ein Dasein schildert,
wie es thatsächlich für die meisten Menschen verläuft und für alle verlaufen


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[0534] Neues Nönchthum. se die Welt wirklich so schlecht, daß, wer den Verzicht auf ihre Gitter predigt und zur Flucht in die Studirstube räth, sich für einen Freund der Welt ausgeben darf? Und ist der ein Menschen¬ freund, der auf alles, was das Leben der meisten thatsächlich er¬ füllt, mit Verachtung blickt, dagegen die nnr einer geringen An¬ zahl möglichen Bemühungen um Erkenntniß-Gewinnung als einzigen lohnenden Lebensinhalt anpreist? Die Verleumdung der Welt, der gegenüber Entsagung das Beste sei, und die gleichzeitige Ueberschätzung der ewig mit sich selbst beschäftigten Meditation ist nicht neu und als eine Wiederbelebung indischer Selbsttäuschung auch nicht interessant, aber neu ist, daß ein Vertreter dieses Standpunktes, ein Mann, der in die dein höchsten Alter allein zukommende „Herzensstille und wunschlose Ruhe des Gemüths" die Glückseligkeit setzt und damit das eigentliche Dasein zwischen Geburt und Tod verurtheilt, für die Welt und für das Leben zu sprechen meint und nicht gewahr wird, daß er selbst jener Krankheit, jenem in System gebrachten Verfolgungswahnsinn, dem Pessimismus verfallen ist, den er zu bekämpfen trachtet. Der Pessimist, der als solcher auftritt, verdient nicht ohne weiteres Beachtung, aber derjenige Schriftsteller, der anscheinend die Pessimisten befehdet und doch, ohne es sich klar zu machen, zu ihnen gehört, ist eine interessante und — nicht ganz ungefährliche Erscheinung, Ein Herr B. M, W, Koch ist mit einer im Jahre 1880 bei Mrvse er¬ schienenen Schrift „Ueber die rechte Gestalt des individuellen Daseins, mit besonderer Berücksichtigung der Religion. Eine Welt- und menschenfreund¬ liche Betrachtung" in die schwebenden Verhandlungen über das Für und Wider des Lebens und der Welt eingetreten. Da in dem literarischen Streite zwischen der optimistischen Versöhnung mit dem Dasein und der pessimistischen Verwerfung desselben die Betheiligung eine ungleiche ist und die Lebensfeinde zahlreich find, so würde uns ein neuer Bertheidiger des Lebens willkommen sein; aber den können wir nicht willkommen heißen, der zwar Miene macht, für uns zu kämpfen, in Wahrheit aber zu den Gegnern gehört. Wer es unternimmt, die rechte Gestalt für das Dasein des einzelnen aufzu¬ zeigen, der muß ein Vcwnßtsein haben von der Wichtigkeit und den Konsequenzen seines Thuns, Wenn er als normal und wünschenswert!) ein Dasein schildert, wie es thatsächlich für die meisten Menschen verläuft und für alle verlaufen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/534>, abgerufen am 29.04.2024.