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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Der Kaisermord in Petersburg.

er gestern gegen zehn Uhr Abends aus den äußern Vierteln Berlins
nach den innern Stadttheilen ging, dem mußte ans den Straßen
eine ungewöhnliche Bewegung auffallen. Etwas Außerordentliches
war offenbar geschehe". Gruppen von Menschen umstanden die
Gaslaternen und die Lampen der noch offnen Verl'auffinden, lasen
weiße Zettel und schienen sie zu commentiren. Von fern hörte man Ausrufer,
die, als sie näher kamen, dahin zu verstehen waren, daß sie "große Neuigkeiten
aus Petersburg" zu verkaufen hätten. Von andern, die mehr von ihrer Waare
verriethen, erfuhr man: "Kaiser Alexander erschossen." Man erwarb sich eins
der Extrablätter, die sie feiltrugen, und begegnete in zwei lakonischer Zeilen der
Kunde, daß der Zar diesen Nachmittag gegen vier Uhr an den kurz vorher durch
ein Bombenattentat empfangner Wunden verschieden sei. Der heutige Morgen
brachte volle Bestätigung der grausen Nachricht: der Kaiser war in der That
auf der Rückkehr vou einer Parade nach dein Winterpalais durch Sprengbomben,
die Mörderhciude geworfen, schwer verwundet worden und anderthalb Stunden
später an Blutverlust gestorben. Die eine der beiden Personen, welche das Ver¬
brechen begangen, war ergriffen, nach einem ander" Telegramme waren beide
in den Händen der Gerechtigkeit. Die Truppen hatten bereits dem neuen Zaren
den Treueid geleistet, die Civilbehörden sollten dies am nächsten Tage thun.

Wir ergehen uns nicht in verdammender Entrüstung über die ruchlose That,
weil diese Empfindung bei allen rechtschaffen und loyal denkenden selbstverständ¬
lich ist und anders fühlende durch das bei solchen Gelegenheiten übliche Zeitungs¬
pathos nicht bekehrt werden; wir sprechen nur kurz die Hoffnung aus, daß die
Missethäter sammt ihren etwaige" Mitwissern rasch nach Gebühr bestraft werden
mögen, und daß es endlich gelingen möge, Mittel zu finde", mit denen der
nihilistischen Fäulniß, an welcher die mittlern und zum Theil auch die höhern
Schichten der russischen Gesellschaft bis ins Mark hinein erkrankt sind, und aus
welcher die Blutthat des 13. März aller Wahrscheinlichkeit zufolge entsprungen
ist, wie viele andre vor ihr, bald und gründlich ein Ende gemacht werden kann.

Auch von einem ausführlichen Nekrologe des verstorbnen Zaren müssen
wir absehen, da die Tagesblätter, die dergleichen Sachen auf Lager haben, uns
damit zuvorkommen werden, und da andrerseits ein wahrheitsgetreues Charakter¬
bild Alexanders sich aus verschiednen Gründen noch nicht zeichnen läßt. Es


Der Kaisermord in Petersburg.

er gestern gegen zehn Uhr Abends aus den äußern Vierteln Berlins
nach den innern Stadttheilen ging, dem mußte ans den Straßen
eine ungewöhnliche Bewegung auffallen. Etwas Außerordentliches
war offenbar geschehe». Gruppen von Menschen umstanden die
Gaslaternen und die Lampen der noch offnen Verl'auffinden, lasen
weiße Zettel und schienen sie zu commentiren. Von fern hörte man Ausrufer,
die, als sie näher kamen, dahin zu verstehen waren, daß sie „große Neuigkeiten
aus Petersburg" zu verkaufen hätten. Von andern, die mehr von ihrer Waare
verriethen, erfuhr man: „Kaiser Alexander erschossen." Man erwarb sich eins
der Extrablätter, die sie feiltrugen, und begegnete in zwei lakonischer Zeilen der
Kunde, daß der Zar diesen Nachmittag gegen vier Uhr an den kurz vorher durch
ein Bombenattentat empfangner Wunden verschieden sei. Der heutige Morgen
brachte volle Bestätigung der grausen Nachricht: der Kaiser war in der That
auf der Rückkehr vou einer Parade nach dein Winterpalais durch Sprengbomben,
die Mörderhciude geworfen, schwer verwundet worden und anderthalb Stunden
später an Blutverlust gestorben. Die eine der beiden Personen, welche das Ver¬
brechen begangen, war ergriffen, nach einem ander» Telegramme waren beide
in den Händen der Gerechtigkeit. Die Truppen hatten bereits dem neuen Zaren
den Treueid geleistet, die Civilbehörden sollten dies am nächsten Tage thun.

Wir ergehen uns nicht in verdammender Entrüstung über die ruchlose That,
weil diese Empfindung bei allen rechtschaffen und loyal denkenden selbstverständ¬
lich ist und anders fühlende durch das bei solchen Gelegenheiten übliche Zeitungs¬
pathos nicht bekehrt werden; wir sprechen nur kurz die Hoffnung aus, daß die
Missethäter sammt ihren etwaige» Mitwissern rasch nach Gebühr bestraft werden
mögen, und daß es endlich gelingen möge, Mittel zu finde», mit denen der
nihilistischen Fäulniß, an welcher die mittlern und zum Theil auch die höhern
Schichten der russischen Gesellschaft bis ins Mark hinein erkrankt sind, und aus
welcher die Blutthat des 13. März aller Wahrscheinlichkeit zufolge entsprungen
ist, wie viele andre vor ihr, bald und gründlich ein Ende gemacht werden kann.

Auch von einem ausführlichen Nekrologe des verstorbnen Zaren müssen
wir absehen, da die Tagesblätter, die dergleichen Sachen auf Lager haben, uns
damit zuvorkommen werden, und da andrerseits ein wahrheitsgetreues Charakter¬
bild Alexanders sich aus verschiednen Gründen noch nicht zeichnen läßt. Es


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[0542] Der Kaisermord in Petersburg. er gestern gegen zehn Uhr Abends aus den äußern Vierteln Berlins nach den innern Stadttheilen ging, dem mußte ans den Straßen eine ungewöhnliche Bewegung auffallen. Etwas Außerordentliches war offenbar geschehe». Gruppen von Menschen umstanden die Gaslaternen und die Lampen der noch offnen Verl'auffinden, lasen weiße Zettel und schienen sie zu commentiren. Von fern hörte man Ausrufer, die, als sie näher kamen, dahin zu verstehen waren, daß sie „große Neuigkeiten aus Petersburg" zu verkaufen hätten. Von andern, die mehr von ihrer Waare verriethen, erfuhr man: „Kaiser Alexander erschossen." Man erwarb sich eins der Extrablätter, die sie feiltrugen, und begegnete in zwei lakonischer Zeilen der Kunde, daß der Zar diesen Nachmittag gegen vier Uhr an den kurz vorher durch ein Bombenattentat empfangner Wunden verschieden sei. Der heutige Morgen brachte volle Bestätigung der grausen Nachricht: der Kaiser war in der That auf der Rückkehr vou einer Parade nach dein Winterpalais durch Sprengbomben, die Mörderhciude geworfen, schwer verwundet worden und anderthalb Stunden später an Blutverlust gestorben. Die eine der beiden Personen, welche das Ver¬ brechen begangen, war ergriffen, nach einem ander» Telegramme waren beide in den Händen der Gerechtigkeit. Die Truppen hatten bereits dem neuen Zaren den Treueid geleistet, die Civilbehörden sollten dies am nächsten Tage thun. Wir ergehen uns nicht in verdammender Entrüstung über die ruchlose That, weil diese Empfindung bei allen rechtschaffen und loyal denkenden selbstverständ¬ lich ist und anders fühlende durch das bei solchen Gelegenheiten übliche Zeitungs¬ pathos nicht bekehrt werden; wir sprechen nur kurz die Hoffnung aus, daß die Missethäter sammt ihren etwaige» Mitwissern rasch nach Gebühr bestraft werden mögen, und daß es endlich gelingen möge, Mittel zu finde», mit denen der nihilistischen Fäulniß, an welcher die mittlern und zum Theil auch die höhern Schichten der russischen Gesellschaft bis ins Mark hinein erkrankt sind, und aus welcher die Blutthat des 13. März aller Wahrscheinlichkeit zufolge entsprungen ist, wie viele andre vor ihr, bald und gründlich ein Ende gemacht werden kann. Auch von einem ausführlichen Nekrologe des verstorbnen Zaren müssen wir absehen, da die Tagesblätter, die dergleichen Sachen auf Lager haben, uns damit zuvorkommen werden, und da andrerseits ein wahrheitsgetreues Charakter¬ bild Alexanders sich aus verschiednen Gründen noch nicht zeichnen läßt. Es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/542>, abgerufen am 28.04.2024.