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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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politische Briefe.
6. Die zweijährige Budgetperiode vor dem Reichstage.

s pflegt als menschlicher Trost zu gelten, daß bei jedem Unglücke
noch ein Tropfen Glück sich befinde, der entweder die natürliche"
Folgen des Unglücks sich nicht ganz entfalten läßt oder gar den
Leiden desselben als wohlthätige Wirkung anhängt. Ein solches
Glück ist es für uns Deutsche, daß gegenwärtig alle Welt zu Hause
mit eignen ernsten Sorgen beschäftigt ist und infolge dessen uns den Genuß des
beschämenden Schauspiels allein überläßt, das wir sonst jedem darbieten würden,
der uns betrachtet. Nach beispiellosen Erfolgen gleichen wir dem Manne, der
vom Feste heimkehrend in einen Sumpf gerathen ist, welchem er sich hilflos und
ungeschickt zu entwinden strebt. Um diesem Manne vollständig zu gleichen, ver¬
wünschen wir wie er den Festgeber, der die glänzenden Stunden herbeiführte,
aus denen unsre Unachtsamkeit entsprang.

Nicht bei einer einzigen unsrer Aufgaben -- und wir haben das Glück und
die Ehre, deren viele zu besitzen, welche Erfindung, Kraft und Umsicht in An¬
spruch nehme:? -- wissen wir jetzt aus oder ein. Nicht einmal das Problem
einer formalen Regel für unsre parlamentarischen Arbeiten können wir losen, so
daß wir auch dabei in den Sumpf rathloser Leidenschaftlichkeit gerathen müssen.
Der Grund dieser Erscheinung liegt ebenso deutlich vor Augen, als er beklagens-
werth ist. Wir haben kein ausländisches Vorbild für die Regel, die wir hier
finden sollen, weil es ein in der Weise zusammengesetztes Staatswesen zum Heile
aller Völker, die davon verschont geblieben, noch nicht gegeben hat. Wir müssen
also für einen originalen Stoff die originale Form finden, und das können wir


Grenzbote" II. 1381. 32


politische Briefe.
6. Die zweijährige Budgetperiode vor dem Reichstage.

s pflegt als menschlicher Trost zu gelten, daß bei jedem Unglücke
noch ein Tropfen Glück sich befinde, der entweder die natürliche»
Folgen des Unglücks sich nicht ganz entfalten läßt oder gar den
Leiden desselben als wohlthätige Wirkung anhängt. Ein solches
Glück ist es für uns Deutsche, daß gegenwärtig alle Welt zu Hause
mit eignen ernsten Sorgen beschäftigt ist und infolge dessen uns den Genuß des
beschämenden Schauspiels allein überläßt, das wir sonst jedem darbieten würden,
der uns betrachtet. Nach beispiellosen Erfolgen gleichen wir dem Manne, der
vom Feste heimkehrend in einen Sumpf gerathen ist, welchem er sich hilflos und
ungeschickt zu entwinden strebt. Um diesem Manne vollständig zu gleichen, ver¬
wünschen wir wie er den Festgeber, der die glänzenden Stunden herbeiführte,
aus denen unsre Unachtsamkeit entsprang.

Nicht bei einer einzigen unsrer Aufgaben — und wir haben das Glück und
die Ehre, deren viele zu besitzen, welche Erfindung, Kraft und Umsicht in An¬
spruch nehme:? — wissen wir jetzt aus oder ein. Nicht einmal das Problem
einer formalen Regel für unsre parlamentarischen Arbeiten können wir losen, so
daß wir auch dabei in den Sumpf rathloser Leidenschaftlichkeit gerathen müssen.
Der Grund dieser Erscheinung liegt ebenso deutlich vor Augen, als er beklagens-
werth ist. Wir haben kein ausländisches Vorbild für die Regel, die wir hier
finden sollen, weil es ein in der Weise zusammengesetztes Staatswesen zum Heile
aller Völker, die davon verschont geblieben, noch nicht gegeben hat. Wir müssen
also für einen originalen Stoff die originale Form finden, und das können wir


Grenzbote» II. 1381. 32
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[0253] [Abbildung] politische Briefe. 6. Die zweijährige Budgetperiode vor dem Reichstage. s pflegt als menschlicher Trost zu gelten, daß bei jedem Unglücke noch ein Tropfen Glück sich befinde, der entweder die natürliche» Folgen des Unglücks sich nicht ganz entfalten läßt oder gar den Leiden desselben als wohlthätige Wirkung anhängt. Ein solches Glück ist es für uns Deutsche, daß gegenwärtig alle Welt zu Hause mit eignen ernsten Sorgen beschäftigt ist und infolge dessen uns den Genuß des beschämenden Schauspiels allein überläßt, das wir sonst jedem darbieten würden, der uns betrachtet. Nach beispiellosen Erfolgen gleichen wir dem Manne, der vom Feste heimkehrend in einen Sumpf gerathen ist, welchem er sich hilflos und ungeschickt zu entwinden strebt. Um diesem Manne vollständig zu gleichen, ver¬ wünschen wir wie er den Festgeber, der die glänzenden Stunden herbeiführte, aus denen unsre Unachtsamkeit entsprang. Nicht bei einer einzigen unsrer Aufgaben — und wir haben das Glück und die Ehre, deren viele zu besitzen, welche Erfindung, Kraft und Umsicht in An¬ spruch nehme:? — wissen wir jetzt aus oder ein. Nicht einmal das Problem einer formalen Regel für unsre parlamentarischen Arbeiten können wir losen, so daß wir auch dabei in den Sumpf rathloser Leidenschaftlichkeit gerathen müssen. Der Grund dieser Erscheinung liegt ebenso deutlich vor Augen, als er beklagens- werth ist. Wir haben kein ausländisches Vorbild für die Regel, die wir hier finden sollen, weil es ein in der Weise zusammengesetztes Staatswesen zum Heile aller Völker, die davon verschont geblieben, noch nicht gegeben hat. Wir müssen also für einen originalen Stoff die originale Form finden, und das können wir Grenzbote» II. 1381. 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/253>, abgerufen am 06.05.2024.