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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Der jüngste Tag.

Sie die Gemeinde vor dem Segen -- es geht einmal ohne das -- und gehen
Sie mit Doppelschritten über die Felder und kriechen Sie in mein Studier¬
zimmer in Sicherheit. Weitere Einzelheiten zur angesetzten Zeit.




Siebzehntes Aapitel.
Im falschen Kirchenstuhl.

August sagte sein eigner gesunder Menschenverstand, daß der Rat, den
Jonas ihm gegeben, nicht gut war. Indeß hatte er in der letzten Zeit viele
Mißgriffe begangen, und so war er gerade setzt geneigt, andrer Leute Urteil
statt des seinen gelten zu lassen. All sein Stolz und all sein Ehrgefühl em¬
pörte sich bei dem Gedanken, sich in das Haus eines andern Mannes bei Nacht
einzuschleichen. Bescheidenheit ist ohne Zweifel eine Tugend, aber sie ist eine
Tugend, die für mancherlei Verstoße verantwortlich ist. Hütte August nicht so
großes Mißtrauen in seine eigne Klugheit gesetzt, so hätte ihn nichts überreden
können, seiner Liebe zu Julia Anderson durch ein so wenig würdiges Verfahren
den Schein von etwas Unrechten zu gebe". Aber hinter Jonas' Meinung stand
die Meinung Andrews, dessen Schwäche Donquixotismus war. Er wünschte im
Stil der Romanheldeu zu leben und andre so leben zu sehen. Es lag in Jonas'
Vorschlage etwas Ritterliches, eine Würze von Abenteuerlichkeit, die ihn denselben
aus lediglich sentimentalen Gründen billigen ließ.

Je mehr August sich deu Plan überlegte und je näher seine Ausführung
herankam, desto mehr mißfiel er ihm. Aber ich habe häufig bemerkt, daß Leute
von ziemlich ruhigem Temperamente, wie der junge Weste, in doppelter Weise
öl" w<zrtig.v an den Tag legen; nicht leicht in Bewegung zu setzen, sind sie auch
nicht leicht zum Stehen zu bringen, wenn sie einmal in Bewegung sind. Augusts
Schnellfüßigkeit war gewöhnlich nicht groß, seine Willenskraft aber war gewaltig,
und jetzt, wo er sich den Händen Jonas Harrisvns anvertraut und sich zu seinem
Unternehmen ausgemacht hatte, war er in seiner ruhigen Art entschlossen, es bis
zu Ende durchzuführen.

Natürlich kannte er das Haus, und nachdem er die Familie in der Kirche
verlassen, hatte er nichts zu thun als an einem der Pfeiler der Vorderveranda
hinaufzuklettern. In diesen arkadischen Tagen waren die Fenster des Oberstocks
kaum jemals verschlossen, ausgenommen, wenn das Hans von seinen Insassen
auf mehrere Tage verlassen war. Halb oben am Pfosten wurde er von heftigem
Zittern ergriffen. Seine Lage rief eine wirre Erinnerung an einen Text ans
der heiligen Schrift wach: "Wer da nicht durch die Thür eintritt. . . sondern
einen andern Weg hinaufsteigt, derselbige ist ein Dieb und ein Räuber." Unter
herrnhuterischen Einflüssen erzogen, glaubte er halb und halb, daß diese Stelle
eine übernatürliche Eingebung sei. Einen Augenblick wankte sein Entschluß, aber


Der jüngste Tag.

Sie die Gemeinde vor dem Segen — es geht einmal ohne das — und gehen
Sie mit Doppelschritten über die Felder und kriechen Sie in mein Studier¬
zimmer in Sicherheit. Weitere Einzelheiten zur angesetzten Zeit.




Siebzehntes Aapitel.
Im falschen Kirchenstuhl.

August sagte sein eigner gesunder Menschenverstand, daß der Rat, den
Jonas ihm gegeben, nicht gut war. Indeß hatte er in der letzten Zeit viele
Mißgriffe begangen, und so war er gerade setzt geneigt, andrer Leute Urteil
statt des seinen gelten zu lassen. All sein Stolz und all sein Ehrgefühl em¬
pörte sich bei dem Gedanken, sich in das Haus eines andern Mannes bei Nacht
einzuschleichen. Bescheidenheit ist ohne Zweifel eine Tugend, aber sie ist eine
Tugend, die für mancherlei Verstoße verantwortlich ist. Hütte August nicht so
großes Mißtrauen in seine eigne Klugheit gesetzt, so hätte ihn nichts überreden
können, seiner Liebe zu Julia Anderson durch ein so wenig würdiges Verfahren
den Schein von etwas Unrechten zu gebe». Aber hinter Jonas' Meinung stand
die Meinung Andrews, dessen Schwäche Donquixotismus war. Er wünschte im
Stil der Romanheldeu zu leben und andre so leben zu sehen. Es lag in Jonas'
Vorschlage etwas Ritterliches, eine Würze von Abenteuerlichkeit, die ihn denselben
aus lediglich sentimentalen Gründen billigen ließ.

Je mehr August sich deu Plan überlegte und je näher seine Ausführung
herankam, desto mehr mißfiel er ihm. Aber ich habe häufig bemerkt, daß Leute
von ziemlich ruhigem Temperamente, wie der junge Weste, in doppelter Weise
öl« w<zrtig.v an den Tag legen; nicht leicht in Bewegung zu setzen, sind sie auch
nicht leicht zum Stehen zu bringen, wenn sie einmal in Bewegung sind. Augusts
Schnellfüßigkeit war gewöhnlich nicht groß, seine Willenskraft aber war gewaltig,
und jetzt, wo er sich den Händen Jonas Harrisvns anvertraut und sich zu seinem
Unternehmen ausgemacht hatte, war er in seiner ruhigen Art entschlossen, es bis
zu Ende durchzuführen.

Natürlich kannte er das Haus, und nachdem er die Familie in der Kirche
verlassen, hatte er nichts zu thun als an einem der Pfeiler der Vorderveranda
hinaufzuklettern. In diesen arkadischen Tagen waren die Fenster des Oberstocks
kaum jemals verschlossen, ausgenommen, wenn das Hans von seinen Insassen
auf mehrere Tage verlassen war. Halb oben am Pfosten wurde er von heftigem
Zittern ergriffen. Seine Lage rief eine wirre Erinnerung an einen Text ans
der heiligen Schrift wach: „Wer da nicht durch die Thür eintritt. . . sondern
einen andern Weg hinaufsteigt, derselbige ist ein Dieb und ein Räuber." Unter
herrnhuterischen Einflüssen erzogen, glaubte er halb und halb, daß diese Stelle
eine übernatürliche Eingebung sei. Einen Augenblick wankte sein Entschluß, aber


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[0482] Der jüngste Tag. Sie die Gemeinde vor dem Segen — es geht einmal ohne das — und gehen Sie mit Doppelschritten über die Felder und kriechen Sie in mein Studier¬ zimmer in Sicherheit. Weitere Einzelheiten zur angesetzten Zeit. Siebzehntes Aapitel. Im falschen Kirchenstuhl. August sagte sein eigner gesunder Menschenverstand, daß der Rat, den Jonas ihm gegeben, nicht gut war. Indeß hatte er in der letzten Zeit viele Mißgriffe begangen, und so war er gerade setzt geneigt, andrer Leute Urteil statt des seinen gelten zu lassen. All sein Stolz und all sein Ehrgefühl em¬ pörte sich bei dem Gedanken, sich in das Haus eines andern Mannes bei Nacht einzuschleichen. Bescheidenheit ist ohne Zweifel eine Tugend, aber sie ist eine Tugend, die für mancherlei Verstoße verantwortlich ist. Hütte August nicht so großes Mißtrauen in seine eigne Klugheit gesetzt, so hätte ihn nichts überreden können, seiner Liebe zu Julia Anderson durch ein so wenig würdiges Verfahren den Schein von etwas Unrechten zu gebe». Aber hinter Jonas' Meinung stand die Meinung Andrews, dessen Schwäche Donquixotismus war. Er wünschte im Stil der Romanheldeu zu leben und andre so leben zu sehen. Es lag in Jonas' Vorschlage etwas Ritterliches, eine Würze von Abenteuerlichkeit, die ihn denselben aus lediglich sentimentalen Gründen billigen ließ. Je mehr August sich deu Plan überlegte und je näher seine Ausführung herankam, desto mehr mißfiel er ihm. Aber ich habe häufig bemerkt, daß Leute von ziemlich ruhigem Temperamente, wie der junge Weste, in doppelter Weise öl« w<zrtig.v an den Tag legen; nicht leicht in Bewegung zu setzen, sind sie auch nicht leicht zum Stehen zu bringen, wenn sie einmal in Bewegung sind. Augusts Schnellfüßigkeit war gewöhnlich nicht groß, seine Willenskraft aber war gewaltig, und jetzt, wo er sich den Händen Jonas Harrisvns anvertraut und sich zu seinem Unternehmen ausgemacht hatte, war er in seiner ruhigen Art entschlossen, es bis zu Ende durchzuführen. Natürlich kannte er das Haus, und nachdem er die Familie in der Kirche verlassen, hatte er nichts zu thun als an einem der Pfeiler der Vorderveranda hinaufzuklettern. In diesen arkadischen Tagen waren die Fenster des Oberstocks kaum jemals verschlossen, ausgenommen, wenn das Hans von seinen Insassen auf mehrere Tage verlassen war. Halb oben am Pfosten wurde er von heftigem Zittern ergriffen. Seine Lage rief eine wirre Erinnerung an einen Text ans der heiligen Schrift wach: „Wer da nicht durch die Thür eintritt. . . sondern einen andern Weg hinaufsteigt, derselbige ist ein Dieb und ein Räuber." Unter herrnhuterischen Einflüssen erzogen, glaubte er halb und halb, daß diese Stelle eine übernatürliche Eingebung sei. Einen Augenblick wankte sein Entschluß, aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/482>, abgerufen am 05.05.2024.