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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Das verflossene Jahr.

as verflossene Jahr hat ebenso wie die beiden vorangegangenen
Jahre keine großen Kriege oder Revolutionen gesehen. Dennoch
war es ein Jahr, welches einst eine Epoche in der Geschichte be¬
zeichnen wird; denn gleich in den ersten Wochen desselben wurde
ein bedeutungsvoller Schritt auf dem Gebiete der Arbeiterfrage
getan, ein Schritt, mit welchem diese Frage eine völlig neue Richtung ein¬
schlug. Mit dem Gesetzentwurfe, den der Reichskanzler am 1?>. Januar dem
Bundesrate vorlegte, wurde der erste Versuch gemacht, in die Reichsgesetzgebung
ein sozialistisches Element einzuführen, wurde die Verpflichtung des Staates,
in Angelegenheiten des arbeitenden Volkes in großem Stile positiv wirksam zu
sein, tatsächlich anerkannt, wurde das Recht der Arbeiter proklamirt, vom Staate
bei ihrer Sicherung gegen Unfälle in ihrem Berufe unterstützt zu werden. Und
nicht genug damit, die betreffende Vorlage deutete an, daß die staatliche Fürsorge
hiermit nur das erste Wort gesprochen habe, und daß weitere Maßregeln zur
Beruhigung der arbeitenden Klasse über ihre Zukunft in Aussicht genommen
seien. Es galt, dem Zcrsetzungsproccß, den die Lehre der Manchesterschule her¬
beigeführt hat, der die Lohnarbeiter durch die Unsicherheit ihrer Existenzbe¬
dingungen alle moralische Spannkraft verlieren und nur im Umsturz alles Be¬
stehenden noch Hoffnung finden ließ, während er deren Arbeitgeber mehr und
mehr gewöhnte, sie lediglich als Material oder Werkzeug zum Geldmacher an¬
zusehen und zu behandeln, zunächst an einer bestimmten Stelle und dann Schritt
vor Schritt weiter Einhalt zu thun, und der Reichskanzler war dem genialen
Gedanken gefolgt, sich dazu des Versicherungswesens zu bedienen. Die Lösung
der sozialen Frage kann uur durch Stärkung der moralischen Kraft der Betei¬
ligten herbeigeführt werden. Nur Selbstdisziplin der betreffenden Klassen kann


Gvcnzboten I. 1882. 1


Das verflossene Jahr.

as verflossene Jahr hat ebenso wie die beiden vorangegangenen
Jahre keine großen Kriege oder Revolutionen gesehen. Dennoch
war es ein Jahr, welches einst eine Epoche in der Geschichte be¬
zeichnen wird; denn gleich in den ersten Wochen desselben wurde
ein bedeutungsvoller Schritt auf dem Gebiete der Arbeiterfrage
getan, ein Schritt, mit welchem diese Frage eine völlig neue Richtung ein¬
schlug. Mit dem Gesetzentwurfe, den der Reichskanzler am 1?>. Januar dem
Bundesrate vorlegte, wurde der erste Versuch gemacht, in die Reichsgesetzgebung
ein sozialistisches Element einzuführen, wurde die Verpflichtung des Staates,
in Angelegenheiten des arbeitenden Volkes in großem Stile positiv wirksam zu
sein, tatsächlich anerkannt, wurde das Recht der Arbeiter proklamirt, vom Staate
bei ihrer Sicherung gegen Unfälle in ihrem Berufe unterstützt zu werden. Und
nicht genug damit, die betreffende Vorlage deutete an, daß die staatliche Fürsorge
hiermit nur das erste Wort gesprochen habe, und daß weitere Maßregeln zur
Beruhigung der arbeitenden Klasse über ihre Zukunft in Aussicht genommen
seien. Es galt, dem Zcrsetzungsproccß, den die Lehre der Manchesterschule her¬
beigeführt hat, der die Lohnarbeiter durch die Unsicherheit ihrer Existenzbe¬
dingungen alle moralische Spannkraft verlieren und nur im Umsturz alles Be¬
stehenden noch Hoffnung finden ließ, während er deren Arbeitgeber mehr und
mehr gewöhnte, sie lediglich als Material oder Werkzeug zum Geldmacher an¬
zusehen und zu behandeln, zunächst an einer bestimmten Stelle und dann Schritt
vor Schritt weiter Einhalt zu thun, und der Reichskanzler war dem genialen
Gedanken gefolgt, sich dazu des Versicherungswesens zu bedienen. Die Lösung
der sozialen Frage kann uur durch Stärkung der moralischen Kraft der Betei¬
ligten herbeigeführt werden. Nur Selbstdisziplin der betreffenden Klassen kann


Gvcnzboten I. 1882. 1
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[0009] [Abbildung] Das verflossene Jahr. as verflossene Jahr hat ebenso wie die beiden vorangegangenen Jahre keine großen Kriege oder Revolutionen gesehen. Dennoch war es ein Jahr, welches einst eine Epoche in der Geschichte be¬ zeichnen wird; denn gleich in den ersten Wochen desselben wurde ein bedeutungsvoller Schritt auf dem Gebiete der Arbeiterfrage getan, ein Schritt, mit welchem diese Frage eine völlig neue Richtung ein¬ schlug. Mit dem Gesetzentwurfe, den der Reichskanzler am 1?>. Januar dem Bundesrate vorlegte, wurde der erste Versuch gemacht, in die Reichsgesetzgebung ein sozialistisches Element einzuführen, wurde die Verpflichtung des Staates, in Angelegenheiten des arbeitenden Volkes in großem Stile positiv wirksam zu sein, tatsächlich anerkannt, wurde das Recht der Arbeiter proklamirt, vom Staate bei ihrer Sicherung gegen Unfälle in ihrem Berufe unterstützt zu werden. Und nicht genug damit, die betreffende Vorlage deutete an, daß die staatliche Fürsorge hiermit nur das erste Wort gesprochen habe, und daß weitere Maßregeln zur Beruhigung der arbeitenden Klasse über ihre Zukunft in Aussicht genommen seien. Es galt, dem Zcrsetzungsproccß, den die Lehre der Manchesterschule her¬ beigeführt hat, der die Lohnarbeiter durch die Unsicherheit ihrer Existenzbe¬ dingungen alle moralische Spannkraft verlieren und nur im Umsturz alles Be¬ stehenden noch Hoffnung finden ließ, während er deren Arbeitgeber mehr und mehr gewöhnte, sie lediglich als Material oder Werkzeug zum Geldmacher an¬ zusehen und zu behandeln, zunächst an einer bestimmten Stelle und dann Schritt vor Schritt weiter Einhalt zu thun, und der Reichskanzler war dem genialen Gedanken gefolgt, sich dazu des Versicherungswesens zu bedienen. Die Lösung der sozialen Frage kann uur durch Stärkung der moralischen Kraft der Betei¬ ligten herbeigeführt werden. Nur Selbstdisziplin der betreffenden Klassen kann Gvcnzboten I. 1882. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/9>, abgerufen am 06.05.2024.