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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Zweites Quartal.

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Die Väter des Manchestertums.
2. Benthcim und die Lenthcnniten,

er eigentliche Vater der englischen Demokratie ist Jeremias
Venthcun. In seinem Geiste bildete sich die demokratische Idee
der Zeit am reinsten und folgerichtigsten aus, und niemand vor
oder nach ihm hat das Prinzip des Individualismus so bewußt
auf die Spitze getrieben wie er. Er war, wie Held sagt, "die
Personifizirung einer in England noch nicht abgeschlossenen Bewegung. Wir
möchten ihn den Hauptvertreter des Utiliaricmismus, den eigentlichen Propheten
des modernen England nennen. Zeuge ist nicht nur die politische und soziale
Literatur Englands seit 1820, sondern man kann nachweisen, daß die großen
Agitatoren, die vor und nach Benthams Tode an der Spitze der Mittelklassen
und des Proletariats standen, nicht nnr dieselben Ideen wie Bentham verfochten,
sondern sich geradezu seiner Worte bedienten." An einer andern Stelle ver¬
gleicht Held Bentham mit David Strauß. "Beide fingen mit kritischen Gedanken
an, welche sie zunächst im Interesse mäßiger Tendenzen verwendeten, beide endeten,
immer einsamer werdend, mit umfassender Negation alles Bestehenden, beide
waren uneigennützige, wahrheitsliebende scharfe Geister, denen ihre Völker als
Bahnbrechern den größten Dank schulden, und doch in ihren vollen Konsequenzen
nicht zu folgen vermögen."

Im Folgenden vergegenwärtigen wir uns im Anschluß ein Helds Dar¬
stellung zunächst den Hauptgedanken Benthams, das Nützlichkeitsprinzip, dann
vorzüglich seine speziellen Ideen über Verfassungsfragen und über wirtschaftliche
Verhältnisse.

Das fundamentale Axiom in der moralischen Welt ist, wie Bentham be¬
hauptet, der Satz, daß das größte Glück der größten Zahl von Menschen der
Maßstab für Recht und Unrecht sei. Er geht also vom Glücksprinzip oder,
da eine glückerzeugende Handlung nützt, vom Nützlichkeitsprinzipe aus. Lust und
Leid, Vergnügen und Schmerz sind die einzigen Konsequenzen eines Gesetzes,
an denen die Menschen interessirt sind. Der Gedanke an die Naturnotwendig¬
keit einer bestehenden Ordnung unter zusammenlebenden Menschen kommt Bentham
nicht, überall ist ihm die Gesellschaft ein mechanisches Nebeneinandersein, kein
organisches Zusammenleben von Menschen. Die Unterthanen sollen nach ihm
nur gehorchen, "so lange die voraussichtlichen schlimmen Folgen des Gehorsams
geringer sind als die voraussichtlichen schlimmen Folgen des Widerstandes."
"Die Pflicht der Unterthanen geht nicht weiter als ihr Interesse," weil "das
höchste Prinzip der Nützlichkeit von keinem andern höhern Grunde abhängt,


Die Väter des Manchestertums.
2. Benthcim und die Lenthcnniten,

er eigentliche Vater der englischen Demokratie ist Jeremias
Venthcun. In seinem Geiste bildete sich die demokratische Idee
der Zeit am reinsten und folgerichtigsten aus, und niemand vor
oder nach ihm hat das Prinzip des Individualismus so bewußt
auf die Spitze getrieben wie er. Er war, wie Held sagt, „die
Personifizirung einer in England noch nicht abgeschlossenen Bewegung. Wir
möchten ihn den Hauptvertreter des Utiliaricmismus, den eigentlichen Propheten
des modernen England nennen. Zeuge ist nicht nur die politische und soziale
Literatur Englands seit 1820, sondern man kann nachweisen, daß die großen
Agitatoren, die vor und nach Benthams Tode an der Spitze der Mittelklassen
und des Proletariats standen, nicht nnr dieselben Ideen wie Bentham verfochten,
sondern sich geradezu seiner Worte bedienten." An einer andern Stelle ver¬
gleicht Held Bentham mit David Strauß. „Beide fingen mit kritischen Gedanken
an, welche sie zunächst im Interesse mäßiger Tendenzen verwendeten, beide endeten,
immer einsamer werdend, mit umfassender Negation alles Bestehenden, beide
waren uneigennützige, wahrheitsliebende scharfe Geister, denen ihre Völker als
Bahnbrechern den größten Dank schulden, und doch in ihren vollen Konsequenzen
nicht zu folgen vermögen."

Im Folgenden vergegenwärtigen wir uns im Anschluß ein Helds Dar¬
stellung zunächst den Hauptgedanken Benthams, das Nützlichkeitsprinzip, dann
vorzüglich seine speziellen Ideen über Verfassungsfragen und über wirtschaftliche
Verhältnisse.

Das fundamentale Axiom in der moralischen Welt ist, wie Bentham be¬
hauptet, der Satz, daß das größte Glück der größten Zahl von Menschen der
Maßstab für Recht und Unrecht sei. Er geht also vom Glücksprinzip oder,
da eine glückerzeugende Handlung nützt, vom Nützlichkeitsprinzipe aus. Lust und
Leid, Vergnügen und Schmerz sind die einzigen Konsequenzen eines Gesetzes,
an denen die Menschen interessirt sind. Der Gedanke an die Naturnotwendig¬
keit einer bestehenden Ordnung unter zusammenlebenden Menschen kommt Bentham
nicht, überall ist ihm die Gesellschaft ein mechanisches Nebeneinandersein, kein
organisches Zusammenleben von Menschen. Die Unterthanen sollen nach ihm
nur gehorchen, „so lange die voraussichtlichen schlimmen Folgen des Gehorsams
geringer sind als die voraussichtlichen schlimmen Folgen des Widerstandes."
„Die Pflicht der Unterthanen geht nicht weiter als ihr Interesse," weil „das
höchste Prinzip der Nützlichkeit von keinem andern höhern Grunde abhängt,


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[0212] Die Väter des Manchestertums. 2. Benthcim und die Lenthcnniten, er eigentliche Vater der englischen Demokratie ist Jeremias Venthcun. In seinem Geiste bildete sich die demokratische Idee der Zeit am reinsten und folgerichtigsten aus, und niemand vor oder nach ihm hat das Prinzip des Individualismus so bewußt auf die Spitze getrieben wie er. Er war, wie Held sagt, „die Personifizirung einer in England noch nicht abgeschlossenen Bewegung. Wir möchten ihn den Hauptvertreter des Utiliaricmismus, den eigentlichen Propheten des modernen England nennen. Zeuge ist nicht nur die politische und soziale Literatur Englands seit 1820, sondern man kann nachweisen, daß die großen Agitatoren, die vor und nach Benthams Tode an der Spitze der Mittelklassen und des Proletariats standen, nicht nnr dieselben Ideen wie Bentham verfochten, sondern sich geradezu seiner Worte bedienten." An einer andern Stelle ver¬ gleicht Held Bentham mit David Strauß. „Beide fingen mit kritischen Gedanken an, welche sie zunächst im Interesse mäßiger Tendenzen verwendeten, beide endeten, immer einsamer werdend, mit umfassender Negation alles Bestehenden, beide waren uneigennützige, wahrheitsliebende scharfe Geister, denen ihre Völker als Bahnbrechern den größten Dank schulden, und doch in ihren vollen Konsequenzen nicht zu folgen vermögen." Im Folgenden vergegenwärtigen wir uns im Anschluß ein Helds Dar¬ stellung zunächst den Hauptgedanken Benthams, das Nützlichkeitsprinzip, dann vorzüglich seine speziellen Ideen über Verfassungsfragen und über wirtschaftliche Verhältnisse. Das fundamentale Axiom in der moralischen Welt ist, wie Bentham be¬ hauptet, der Satz, daß das größte Glück der größten Zahl von Menschen der Maßstab für Recht und Unrecht sei. Er geht also vom Glücksprinzip oder, da eine glückerzeugende Handlung nützt, vom Nützlichkeitsprinzipe aus. Lust und Leid, Vergnügen und Schmerz sind die einzigen Konsequenzen eines Gesetzes, an denen die Menschen interessirt sind. Der Gedanke an die Naturnotwendig¬ keit einer bestehenden Ordnung unter zusammenlebenden Menschen kommt Bentham nicht, überall ist ihm die Gesellschaft ein mechanisches Nebeneinandersein, kein organisches Zusammenleben von Menschen. Die Unterthanen sollen nach ihm nur gehorchen, „so lange die voraussichtlichen schlimmen Folgen des Gehorsams geringer sind als die voraussichtlichen schlimmen Folgen des Widerstandes." „Die Pflicht der Unterthanen geht nicht weiter als ihr Interesse," weil „das höchste Prinzip der Nützlichkeit von keinem andern höhern Grunde abhängt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89806/212>, abgerufen am 02.05.2024.