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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Treitschkes Deutsche Geschichte.

Republik den Dienst erweisen, auf diese Unterlassungssünden aufmerksam zu
machen. So wie die Dinge stehen, wird er nur die moralische Ohnmacht des
Prinzen in grelleres Licht stellen.

Damit aber richtet sich auch das Verfahren der Regierung gegen ihn vom
politischen Standpunkte. Die Schwäche der napoleonischen Sache würde sicherlich
noch deutlicher und überzeugender hervorgetreten sein, wenn die Minister des
Präsidenten Grevy das Manifest vom 16. Januar mit schweigender Gering¬
schätzung behandelt hätten. Wenn irgend etwas den Prinzen aus der Vereinsamung
und Unbeliebtheit heraushelfen konnte, in welcher er die Jahre daher lebte, so
war es seine Verhaftung und der Prozeß, der ihr folgen wird, und bei dem
überdies das sehr liberale Preßgesetz der Republikaner jüngsten Datums eine
Freisprechung wahrscheinlich macht. Käme es aber anders, so erinnere man
sich, daß die Haft, die Ludwig Napoleon in Ham verbüßte, sehr viel dazu bei¬
getragen hat, ihm im Gedächtnis der Franzosen eine feste Stätte zu bereiten.
Ein Prätendent, dem man gestattet, zu sagen und zu schreiben, was ihm beliebt,
und mit seiner Papierkrone auf dem Kopfe durch die Straßen von Paris zu
stolziren, würde eine vortreffliche Gegenproklamcitivn gegen alle Behauptungen
von der Schwäche der Republik gewesen sein. Hätte man Plon-Plon in Ruhe
gelassen, so wäre sein Manifest schwerlich zu einiger Bedeutung gelangt, so
würde es keine Werkstatt und keine Fabrik in Aufregung versetzt haben und
noch viel weniger in einer Kaserne gelesen und beachtet worden sein. Es wäre
das totgeborne Kind geblieben, das es von Anfang an war.




Treitschkes Deutsche Geschichte.

an pflegt uns Deutschen nachzusagen, daß wir, bei vielfältigen un¬
bestrittenen Vorzügen, doch im ganzen keine sonderlich liebens¬
würdige Nation seien. Das hört sich nicht eben lieblich an, und
jeder sucht gern nach Argumenten, um sich so strengen Urteils zu
erwehren, sei es, daß er sich mit der Überzeugung durchdringt, daß
wir nur nicht genügend gekannt seien, oder daß er sich einredet, das Urteil sei
wohl überhaupt so schlimm nicht gemeint. In einem Punkte aber wird der
Satz von der spezifisch minderen Liebenswürdigkeit der Deutschen, fürchte ich,
schwer zu widerlegen sein. Wissenschaftliche und literarische Kritik ist an sich
ein Geschäft, bei dem es, im mannhaften Kampfe für die Wahrheit, gewiß durch¬
aus nicht in erster Reihe auf Liebenswürdigkeit ankommt; indeß kann sie doch
mit größerer oder geringerer Urbanität betrieben werden. Der deutschen kritischen


Treitschkes Deutsche Geschichte.

Republik den Dienst erweisen, auf diese Unterlassungssünden aufmerksam zu
machen. So wie die Dinge stehen, wird er nur die moralische Ohnmacht des
Prinzen in grelleres Licht stellen.

Damit aber richtet sich auch das Verfahren der Regierung gegen ihn vom
politischen Standpunkte. Die Schwäche der napoleonischen Sache würde sicherlich
noch deutlicher und überzeugender hervorgetreten sein, wenn die Minister des
Präsidenten Grevy das Manifest vom 16. Januar mit schweigender Gering¬
schätzung behandelt hätten. Wenn irgend etwas den Prinzen aus der Vereinsamung
und Unbeliebtheit heraushelfen konnte, in welcher er die Jahre daher lebte, so
war es seine Verhaftung und der Prozeß, der ihr folgen wird, und bei dem
überdies das sehr liberale Preßgesetz der Republikaner jüngsten Datums eine
Freisprechung wahrscheinlich macht. Käme es aber anders, so erinnere man
sich, daß die Haft, die Ludwig Napoleon in Ham verbüßte, sehr viel dazu bei¬
getragen hat, ihm im Gedächtnis der Franzosen eine feste Stätte zu bereiten.
Ein Prätendent, dem man gestattet, zu sagen und zu schreiben, was ihm beliebt,
und mit seiner Papierkrone auf dem Kopfe durch die Straßen von Paris zu
stolziren, würde eine vortreffliche Gegenproklamcitivn gegen alle Behauptungen
von der Schwäche der Republik gewesen sein. Hätte man Plon-Plon in Ruhe
gelassen, so wäre sein Manifest schwerlich zu einiger Bedeutung gelangt, so
würde es keine Werkstatt und keine Fabrik in Aufregung versetzt haben und
noch viel weniger in einer Kaserne gelesen und beachtet worden sein. Es wäre
das totgeborne Kind geblieben, das es von Anfang an war.




Treitschkes Deutsche Geschichte.

an pflegt uns Deutschen nachzusagen, daß wir, bei vielfältigen un¬
bestrittenen Vorzügen, doch im ganzen keine sonderlich liebens¬
würdige Nation seien. Das hört sich nicht eben lieblich an, und
jeder sucht gern nach Argumenten, um sich so strengen Urteils zu
erwehren, sei es, daß er sich mit der Überzeugung durchdringt, daß
wir nur nicht genügend gekannt seien, oder daß er sich einredet, das Urteil sei
wohl überhaupt so schlimm nicht gemeint. In einem Punkte aber wird der
Satz von der spezifisch minderen Liebenswürdigkeit der Deutschen, fürchte ich,
schwer zu widerlegen sein. Wissenschaftliche und literarische Kritik ist an sich
ein Geschäft, bei dem es, im mannhaften Kampfe für die Wahrheit, gewiß durch¬
aus nicht in erster Reihe auf Liebenswürdigkeit ankommt; indeß kann sie doch
mit größerer oder geringerer Urbanität betrieben werden. Der deutschen kritischen


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[0240] Treitschkes Deutsche Geschichte. Republik den Dienst erweisen, auf diese Unterlassungssünden aufmerksam zu machen. So wie die Dinge stehen, wird er nur die moralische Ohnmacht des Prinzen in grelleres Licht stellen. Damit aber richtet sich auch das Verfahren der Regierung gegen ihn vom politischen Standpunkte. Die Schwäche der napoleonischen Sache würde sicherlich noch deutlicher und überzeugender hervorgetreten sein, wenn die Minister des Präsidenten Grevy das Manifest vom 16. Januar mit schweigender Gering¬ schätzung behandelt hätten. Wenn irgend etwas den Prinzen aus der Vereinsamung und Unbeliebtheit heraushelfen konnte, in welcher er die Jahre daher lebte, so war es seine Verhaftung und der Prozeß, der ihr folgen wird, und bei dem überdies das sehr liberale Preßgesetz der Republikaner jüngsten Datums eine Freisprechung wahrscheinlich macht. Käme es aber anders, so erinnere man sich, daß die Haft, die Ludwig Napoleon in Ham verbüßte, sehr viel dazu bei¬ getragen hat, ihm im Gedächtnis der Franzosen eine feste Stätte zu bereiten. Ein Prätendent, dem man gestattet, zu sagen und zu schreiben, was ihm beliebt, und mit seiner Papierkrone auf dem Kopfe durch die Straßen von Paris zu stolziren, würde eine vortreffliche Gegenproklamcitivn gegen alle Behauptungen von der Schwäche der Republik gewesen sein. Hätte man Plon-Plon in Ruhe gelassen, so wäre sein Manifest schwerlich zu einiger Bedeutung gelangt, so würde es keine Werkstatt und keine Fabrik in Aufregung versetzt haben und noch viel weniger in einer Kaserne gelesen und beachtet worden sein. Es wäre das totgeborne Kind geblieben, das es von Anfang an war. Treitschkes Deutsche Geschichte. an pflegt uns Deutschen nachzusagen, daß wir, bei vielfältigen un¬ bestrittenen Vorzügen, doch im ganzen keine sonderlich liebens¬ würdige Nation seien. Das hört sich nicht eben lieblich an, und jeder sucht gern nach Argumenten, um sich so strengen Urteils zu erwehren, sei es, daß er sich mit der Überzeugung durchdringt, daß wir nur nicht genügend gekannt seien, oder daß er sich einredet, das Urteil sei wohl überhaupt so schlimm nicht gemeint. In einem Punkte aber wird der Satz von der spezifisch minderen Liebenswürdigkeit der Deutschen, fürchte ich, schwer zu widerlegen sein. Wissenschaftliche und literarische Kritik ist an sich ein Geschäft, bei dem es, im mannhaften Kampfe für die Wahrheit, gewiß durch¬ aus nicht in erster Reihe auf Liebenswürdigkeit ankommt; indeß kann sie doch mit größerer oder geringerer Urbanität betrieben werden. Der deutschen kritischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/240>, abgerufen am 06.05.2024.