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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Ein Tendenzschausxiel?

IN dem Eingeständnis eines Irrtums auszuweichen, dichten sich,
wie man sagt, die meisten Menschen lieber einen Charakterfehler
an. In der Politik scheint sogar ein unverzeihliches Verbrechen
zu begehen, wer seine Meinungen durch die Erfahrung berichtige"
läßt: die einmal ausgesprochene Ansicht wird aufrecht erhalten,
die Thatsachen haben Unrecht, und doppelt Unrecht hat, wer ihnen Einfluß
gewährt. Villigerweise muß auch zugegeben werden, daß es viel größere Selbst¬
überwindung erfordert, einen Irrtum zu bekennen als ein Verbrechen. Denn
im ersteren Falle heißt das -- gewöhnlich -- zugleich einem andern Recht
geben, seinen überlegenen Scharfsinn anerkennen, und zwar gerade demjenigen,
den man als befangen, urteilslos bekämpft hat. Das ist beschämend. Das be¬
schämendste aber wohl ist, sich sagen zu müssen, daß man naiver Weise ein
Spiel sür Ernst genommen und sich, wie der Landjunker in der Residenz, gegen
Bösewichter ereifert habe, welche unter der abscheuerregenden Maske höchst mo¬
ralische Absichten verbergen.

In solcher Lage befindet sich der Schreiber dieser Zeilen, aber zum Glück
auch in zahlreicher und angesehener Gesellschaft. Und eben dieser Umstand macht
es ihm zur Pflicht, offenes, rückhaltloses Geständnis abzulegen, seine Jrrtums-
genossen aufMüren und denen Abbitte zu leiste", die er so -- lächerlich ver¬
kannt hat. Zur Sache deun!

Wir fühlten uns tief niedergeschlagen dnrch den Gang der parlamentarischen
Verhandlungen im deutschen Reiche. staatsmännische Weisheit scheint auch in
andern Ländern nicht wild am Wege zu wachsen; aber wie viel Entschuldigungs-
gründe ergeben sich, wo Republik und drei Dynastien gleichberechtigte Ansprüche
erheben, oder wo verschiedne Nationalitäten einander bis miss Messer bekriegen!


Grn>zboten I. 1883. 56


Ein Tendenzschausxiel?

IN dem Eingeständnis eines Irrtums auszuweichen, dichten sich,
wie man sagt, die meisten Menschen lieber einen Charakterfehler
an. In der Politik scheint sogar ein unverzeihliches Verbrechen
zu begehen, wer seine Meinungen durch die Erfahrung berichtige»
läßt: die einmal ausgesprochene Ansicht wird aufrecht erhalten,
die Thatsachen haben Unrecht, und doppelt Unrecht hat, wer ihnen Einfluß
gewährt. Villigerweise muß auch zugegeben werden, daß es viel größere Selbst¬
überwindung erfordert, einen Irrtum zu bekennen als ein Verbrechen. Denn
im ersteren Falle heißt das — gewöhnlich — zugleich einem andern Recht
geben, seinen überlegenen Scharfsinn anerkennen, und zwar gerade demjenigen,
den man als befangen, urteilslos bekämpft hat. Das ist beschämend. Das be¬
schämendste aber wohl ist, sich sagen zu müssen, daß man naiver Weise ein
Spiel sür Ernst genommen und sich, wie der Landjunker in der Residenz, gegen
Bösewichter ereifert habe, welche unter der abscheuerregenden Maske höchst mo¬
ralische Absichten verbergen.

In solcher Lage befindet sich der Schreiber dieser Zeilen, aber zum Glück
auch in zahlreicher und angesehener Gesellschaft. Und eben dieser Umstand macht
es ihm zur Pflicht, offenes, rückhaltloses Geständnis abzulegen, seine Jrrtums-
genossen aufMüren und denen Abbitte zu leiste», die er so — lächerlich ver¬
kannt hat. Zur Sache deun!

Wir fühlten uns tief niedergeschlagen dnrch den Gang der parlamentarischen
Verhandlungen im deutschen Reiche. staatsmännische Weisheit scheint auch in
andern Ländern nicht wild am Wege zu wachsen; aber wie viel Entschuldigungs-
gründe ergeben sich, wo Republik und drei Dynastien gleichberechtigte Ansprüche
erheben, oder wo verschiedne Nationalitäten einander bis miss Messer bekriegen!


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[0449] [Abbildung] Ein Tendenzschausxiel? IN dem Eingeständnis eines Irrtums auszuweichen, dichten sich, wie man sagt, die meisten Menschen lieber einen Charakterfehler an. In der Politik scheint sogar ein unverzeihliches Verbrechen zu begehen, wer seine Meinungen durch die Erfahrung berichtige» läßt: die einmal ausgesprochene Ansicht wird aufrecht erhalten, die Thatsachen haben Unrecht, und doppelt Unrecht hat, wer ihnen Einfluß gewährt. Villigerweise muß auch zugegeben werden, daß es viel größere Selbst¬ überwindung erfordert, einen Irrtum zu bekennen als ein Verbrechen. Denn im ersteren Falle heißt das — gewöhnlich — zugleich einem andern Recht geben, seinen überlegenen Scharfsinn anerkennen, und zwar gerade demjenigen, den man als befangen, urteilslos bekämpft hat. Das ist beschämend. Das be¬ schämendste aber wohl ist, sich sagen zu müssen, daß man naiver Weise ein Spiel sür Ernst genommen und sich, wie der Landjunker in der Residenz, gegen Bösewichter ereifert habe, welche unter der abscheuerregenden Maske höchst mo¬ ralische Absichten verbergen. In solcher Lage befindet sich der Schreiber dieser Zeilen, aber zum Glück auch in zahlreicher und angesehener Gesellschaft. Und eben dieser Umstand macht es ihm zur Pflicht, offenes, rückhaltloses Geständnis abzulegen, seine Jrrtums- genossen aufMüren und denen Abbitte zu leiste», die er so — lächerlich ver¬ kannt hat. Zur Sache deun! Wir fühlten uns tief niedergeschlagen dnrch den Gang der parlamentarischen Verhandlungen im deutschen Reiche. staatsmännische Weisheit scheint auch in andern Ländern nicht wild am Wege zu wachsen; aber wie viel Entschuldigungs- gründe ergeben sich, wo Republik und drei Dynastien gleichberechtigte Ansprüche erheben, oder wo verschiedne Nationalitäten einander bis miss Messer bekriegen! Grn>zboten I. 1883. 56

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/449>, abgerufen am 06.05.2024.