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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Literatur.

der Verfasser einen Anhang beigefügt, welcher eine geschickte Auswahl der schönsten
Gedichte des angegebnen Zeitraums enthält und in welchem auch manche bei uns
minder bekannten Namen vertreten sind. Aber auch auf andern Gebieten kann das
Büchlein zu eigner Lektüre anregend und anleitend wirken.


Tanagra. Idyll aus Griechenland von Gottfried Kinkel. Brmmschwcia, Georcie
Westermami, 1883.

Gottfried Kinkels letzte, erst nach seinem Tode hervortretende poetische Gabe
ist ein kleines erzählendes Gedicht, das sich um seine beiden bekannten Erzählungen
in Versen "Otto der Schütz" und "Der Grobschmied von Antwerpen" glücklich
anreiht. Eine von jeher starke Neigung des Dichters zur Beschreibung tritt in
der Künstlergeschichte, welche die Entstehung einer hellenischen "Gewerbekunst" sinnig
und glücklich darstellt und verherrlicht, noch entschiedncr in den Vordergrund. Aber
die Bezeichnung Idyll mag es rechtfertigen, daß wir dem aus dem Kriege heim¬
kehrenden Bildner Praxias erst übers Meer, über die Berge und dnrch halb
Böotien folgen müssen, ehe ihn der Dichter in Tanagra wieder einziehen und sein
verlassenes Heim neu in Besitz nehmen läßt. Das kleine Abenteuer, das sich daran
schließt, und das Praxias in Helena gleich die Malerin finden läßt, die seineu
kleinen Genrebildern in Thon und Ghps buntes Leben verleihen kann, ist ebenso
wie die Wanderung des Heimkehrenden und der erste Eintritt in Tanagra in wohl¬
lautenden, leichtfließenden Versen erzählt. Einen tieferen Gehalt hat das Gedicht
nicht, aber im Vortrag der schlichten Erfindung zeigt sich lebendige Anschauung,
viel Anmut und namentlich sehr stiinmnngsvolle Verbindung der Landschafts¬
schilderung mit deu hnlbschlummcrnden, halb wachen Gefühlen des Bildhauers
Praxias. Die gewählte Form entspricht dem Inhalt und der wesentlich schildernden
Haltung des Idylls vortrefflich, der leichte Fluß, welcher die frühern poetischen
Erzählungen Kinkels auszeichnete, ist auch in "Tanagra" vorhanden. Alles in
allem darf diese letzte Gabe des vor kurzem heimgegangnen Dichters als ein seiner
würdiges Denkmal betrachtet werden. Es soll nie gering angeschlagen werden,
wenn ein Dichter sich auf der Höhe, die er in seinen besten Tagen erreicht hat,
auch im Alter behauptet.

Wunderlich berührt gegenüber diesem Idyll, welches die poetische Eigenart
Kinkels rein und deutlich darstellt und welches verrät, wie wenig das poetische
Naturell und die politische Richtung des verstorbnen Dichters miteinander gemein
hatten, das hochtrabende und unreife Pathos, welches jüngst in einer Reihe von Ge¬
dächtnisreden auf Kinkel zu Tage gefördert worden ist. Die Episode in seinem
Leben, in welcher der Freischärler, der Politische Agitator und Märtyrer momentan
den Poeten in den Hintergrund gedrängt hatte, eine Episode, die er selbst als ein
Stück Mannesschicksal in bewegter Zeit ansah, wird zur Hauptsache gemacht, und
man sollte denken, daß Kinkels Poesie an sie geknüpft sei. Enthielten schon seine
beiden Sammlungen "Gedichte" eine Widerlegung dieses Geredes, so erweist "Ta¬
nagra" vollends, wie weit in diesem Falle die innere Entwicklung des Mannes von
einer revolutionären Poesie ablag.




Literatur.

der Verfasser einen Anhang beigefügt, welcher eine geschickte Auswahl der schönsten
Gedichte des angegebnen Zeitraums enthält und in welchem auch manche bei uns
minder bekannten Namen vertreten sind. Aber auch auf andern Gebieten kann das
Büchlein zu eigner Lektüre anregend und anleitend wirken.


Tanagra. Idyll aus Griechenland von Gottfried Kinkel. Brmmschwcia, Georcie
Westermami, 1883.

Gottfried Kinkels letzte, erst nach seinem Tode hervortretende poetische Gabe
ist ein kleines erzählendes Gedicht, das sich um seine beiden bekannten Erzählungen
in Versen „Otto der Schütz" und „Der Grobschmied von Antwerpen" glücklich
anreiht. Eine von jeher starke Neigung des Dichters zur Beschreibung tritt in
der Künstlergeschichte, welche die Entstehung einer hellenischen „Gewerbekunst" sinnig
und glücklich darstellt und verherrlicht, noch entschiedncr in den Vordergrund. Aber
die Bezeichnung Idyll mag es rechtfertigen, daß wir dem aus dem Kriege heim¬
kehrenden Bildner Praxias erst übers Meer, über die Berge und dnrch halb
Böotien folgen müssen, ehe ihn der Dichter in Tanagra wieder einziehen und sein
verlassenes Heim neu in Besitz nehmen läßt. Das kleine Abenteuer, das sich daran
schließt, und das Praxias in Helena gleich die Malerin finden läßt, die seineu
kleinen Genrebildern in Thon und Ghps buntes Leben verleihen kann, ist ebenso
wie die Wanderung des Heimkehrenden und der erste Eintritt in Tanagra in wohl¬
lautenden, leichtfließenden Versen erzählt. Einen tieferen Gehalt hat das Gedicht
nicht, aber im Vortrag der schlichten Erfindung zeigt sich lebendige Anschauung,
viel Anmut und namentlich sehr stiinmnngsvolle Verbindung der Landschafts¬
schilderung mit deu hnlbschlummcrnden, halb wachen Gefühlen des Bildhauers
Praxias. Die gewählte Form entspricht dem Inhalt und der wesentlich schildernden
Haltung des Idylls vortrefflich, der leichte Fluß, welcher die frühern poetischen
Erzählungen Kinkels auszeichnete, ist auch in „Tanagra" vorhanden. Alles in
allem darf diese letzte Gabe des vor kurzem heimgegangnen Dichters als ein seiner
würdiges Denkmal betrachtet werden. Es soll nie gering angeschlagen werden,
wenn ein Dichter sich auf der Höhe, die er in seinen besten Tagen erreicht hat,
auch im Alter behauptet.

Wunderlich berührt gegenüber diesem Idyll, welches die poetische Eigenart
Kinkels rein und deutlich darstellt und welches verrät, wie wenig das poetische
Naturell und die politische Richtung des verstorbnen Dichters miteinander gemein
hatten, das hochtrabende und unreife Pathos, welches jüngst in einer Reihe von Ge¬
dächtnisreden auf Kinkel zu Tage gefördert worden ist. Die Episode in seinem
Leben, in welcher der Freischärler, der Politische Agitator und Märtyrer momentan
den Poeten in den Hintergrund gedrängt hatte, eine Episode, die er selbst als ein
Stück Mannesschicksal in bewegter Zeit ansah, wird zur Hauptsache gemacht, und
man sollte denken, daß Kinkels Poesie an sie geknüpft sei. Enthielten schon seine
beiden Sammlungen „Gedichte" eine Widerlegung dieses Geredes, so erweist „Ta¬
nagra" vollends, wie weit in diesem Falle die innere Entwicklung des Mannes von
einer revolutionären Poesie ablag.




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[0495] Literatur. der Verfasser einen Anhang beigefügt, welcher eine geschickte Auswahl der schönsten Gedichte des angegebnen Zeitraums enthält und in welchem auch manche bei uns minder bekannten Namen vertreten sind. Aber auch auf andern Gebieten kann das Büchlein zu eigner Lektüre anregend und anleitend wirken. Tanagra. Idyll aus Griechenland von Gottfried Kinkel. Brmmschwcia, Georcie Westermami, 1883. Gottfried Kinkels letzte, erst nach seinem Tode hervortretende poetische Gabe ist ein kleines erzählendes Gedicht, das sich um seine beiden bekannten Erzählungen in Versen „Otto der Schütz" und „Der Grobschmied von Antwerpen" glücklich anreiht. Eine von jeher starke Neigung des Dichters zur Beschreibung tritt in der Künstlergeschichte, welche die Entstehung einer hellenischen „Gewerbekunst" sinnig und glücklich darstellt und verherrlicht, noch entschiedncr in den Vordergrund. Aber die Bezeichnung Idyll mag es rechtfertigen, daß wir dem aus dem Kriege heim¬ kehrenden Bildner Praxias erst übers Meer, über die Berge und dnrch halb Böotien folgen müssen, ehe ihn der Dichter in Tanagra wieder einziehen und sein verlassenes Heim neu in Besitz nehmen läßt. Das kleine Abenteuer, das sich daran schließt, und das Praxias in Helena gleich die Malerin finden läßt, die seineu kleinen Genrebildern in Thon und Ghps buntes Leben verleihen kann, ist ebenso wie die Wanderung des Heimkehrenden und der erste Eintritt in Tanagra in wohl¬ lautenden, leichtfließenden Versen erzählt. Einen tieferen Gehalt hat das Gedicht nicht, aber im Vortrag der schlichten Erfindung zeigt sich lebendige Anschauung, viel Anmut und namentlich sehr stiinmnngsvolle Verbindung der Landschafts¬ schilderung mit deu hnlbschlummcrnden, halb wachen Gefühlen des Bildhauers Praxias. Die gewählte Form entspricht dem Inhalt und der wesentlich schildernden Haltung des Idylls vortrefflich, der leichte Fluß, welcher die frühern poetischen Erzählungen Kinkels auszeichnete, ist auch in „Tanagra" vorhanden. Alles in allem darf diese letzte Gabe des vor kurzem heimgegangnen Dichters als ein seiner würdiges Denkmal betrachtet werden. Es soll nie gering angeschlagen werden, wenn ein Dichter sich auf der Höhe, die er in seinen besten Tagen erreicht hat, auch im Alter behauptet. Wunderlich berührt gegenüber diesem Idyll, welches die poetische Eigenart Kinkels rein und deutlich darstellt und welches verrät, wie wenig das poetische Naturell und die politische Richtung des verstorbnen Dichters miteinander gemein hatten, das hochtrabende und unreife Pathos, welches jüngst in einer Reihe von Ge¬ dächtnisreden auf Kinkel zu Tage gefördert worden ist. Die Episode in seinem Leben, in welcher der Freischärler, der Politische Agitator und Märtyrer momentan den Poeten in den Hintergrund gedrängt hatte, eine Episode, die er selbst als ein Stück Mannesschicksal in bewegter Zeit ansah, wird zur Hauptsache gemacht, und man sollte denken, daß Kinkels Poesie an sie geknüpft sei. Enthielten schon seine beiden Sammlungen „Gedichte" eine Widerlegung dieses Geredes, so erweist „Ta¬ nagra" vollends, wie weit in diesem Falle die innere Entwicklung des Mannes von einer revolutionären Poesie ablag.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/495>, abgerufen am 06.05.2024.