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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Aus Rubens' Lehrjahren.

zichtet, das Wesen des Lichtes zu erklären, welches nur in der Empfindung
selbst seine wahre Begründung hat.

Wer wollte aber aus dieser Unkenntnis Goethe einen ernstlichen Vorwurf
machen, da über das wirkliche Verhältnis von Geist und Nervensubstanz noch
bis auf den heutigen Tag bei den Physiologen so gut wie gar keine vernünftige
Ansicht existirt? Zwar hat Kant im vierten Paralogismus der reinen Vernunft
die Methode vorgezeichnet, deren sich die Forschung zur Lösung derartiger Pro¬
bleme bedienen muß, aber Gebrauch hat fast niemand davon gemacht. Auf diesem
Gebiete also Goethe Unwissenheit und Irrtum vorzuwerfen, das ist ein Vor¬
wurf, der zwar nicht ganz abgewiesen werden kann, der aber die Gegner in
noch höherm Maße trifft als ihn. Und so sagen wir zum Schluß: Will einer
die Licht- und Farbentheorie studiren, so halte er sich zunächst an die Physiker.
Wird ihm dort vielleicht bei weiteren Fortschritt bange, den Zusammenhang der
Erscheinungen mit dem ewigen Grunde der Schöpfung und dem menschlichen
Geiste zu verlieren, so wende er sich zu Goethe, von dem er zugleich die sinn¬
reichsten Andeutungen über den Zusammenhang der Farbenempfindung mit dem
Gemüte des Menschen und seinem Kunstgefühl erhalten wird. Will er endlich
über den Gegensatz zwischen beiden Parteien klar werden, so muß er sich in
die Entstehung der Gesichtswahrnehmungen nach den Resultaten der Physio¬
logie vertiefen, aber er muß dabei die Erkenntnistheorie Kants als Regulator
benutzen, denn nur nach den großen allgemeinen Gesetzen, nach denen unsre Vor¬
stellungen überhaupt entstehen, kann auch die Entstehung der Vorstellungen durch
einen einzelnen Sinn ihre Begründung finden.


A. Classen.


Aus Rubens' Lehrjahren.

N n dem großen niederländischen Meister, welcher dem germanischen
Geiste sympathischer ist als der gleichgeartete Michelangelo, und
welcher dem modernen Geschmack -- soll man eS mit Bedauern
sagen? -- mehr zusagt als Dürer und Holbein, in Rubens er¬
reichte der große Kreislauf, den das wiederbelebte klassische Alter¬
tum im Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts unter italienischem Himmel be¬
gonnen, sein Ende. Er ist der letzte Ausläufer jener künstlerischen Bewegung,
die wir unter dem Namen der Renaissance begreifen, und zugleich der letzte
schöpferische Geist, welcher den Formen der Antike, die sich bereits in ein ge¬
dankenloses Spiel ohne realen Inhalt zu verflüchtigen drohten, ein neues Leben


Aus Rubens' Lehrjahren.

zichtet, das Wesen des Lichtes zu erklären, welches nur in der Empfindung
selbst seine wahre Begründung hat.

Wer wollte aber aus dieser Unkenntnis Goethe einen ernstlichen Vorwurf
machen, da über das wirkliche Verhältnis von Geist und Nervensubstanz noch
bis auf den heutigen Tag bei den Physiologen so gut wie gar keine vernünftige
Ansicht existirt? Zwar hat Kant im vierten Paralogismus der reinen Vernunft
die Methode vorgezeichnet, deren sich die Forschung zur Lösung derartiger Pro¬
bleme bedienen muß, aber Gebrauch hat fast niemand davon gemacht. Auf diesem
Gebiete also Goethe Unwissenheit und Irrtum vorzuwerfen, das ist ein Vor¬
wurf, der zwar nicht ganz abgewiesen werden kann, der aber die Gegner in
noch höherm Maße trifft als ihn. Und so sagen wir zum Schluß: Will einer
die Licht- und Farbentheorie studiren, so halte er sich zunächst an die Physiker.
Wird ihm dort vielleicht bei weiteren Fortschritt bange, den Zusammenhang der
Erscheinungen mit dem ewigen Grunde der Schöpfung und dem menschlichen
Geiste zu verlieren, so wende er sich zu Goethe, von dem er zugleich die sinn¬
reichsten Andeutungen über den Zusammenhang der Farbenempfindung mit dem
Gemüte des Menschen und seinem Kunstgefühl erhalten wird. Will er endlich
über den Gegensatz zwischen beiden Parteien klar werden, so muß er sich in
die Entstehung der Gesichtswahrnehmungen nach den Resultaten der Physio¬
logie vertiefen, aber er muß dabei die Erkenntnistheorie Kants als Regulator
benutzen, denn nur nach den großen allgemeinen Gesetzen, nach denen unsre Vor¬
stellungen überhaupt entstehen, kann auch die Entstehung der Vorstellungen durch
einen einzelnen Sinn ihre Begründung finden.


A. Classen.


Aus Rubens' Lehrjahren.

N n dem großen niederländischen Meister, welcher dem germanischen
Geiste sympathischer ist als der gleichgeartete Michelangelo, und
welcher dem modernen Geschmack — soll man eS mit Bedauern
sagen? — mehr zusagt als Dürer und Holbein, in Rubens er¬
reichte der große Kreislauf, den das wiederbelebte klassische Alter¬
tum im Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts unter italienischem Himmel be¬
gonnen, sein Ende. Er ist der letzte Ausläufer jener künstlerischen Bewegung,
die wir unter dem Namen der Renaissance begreifen, und zugleich der letzte
schöpferische Geist, welcher den Formen der Antike, die sich bereits in ein ge¬
dankenloses Spiel ohne realen Inhalt zu verflüchtigen drohten, ein neues Leben


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[0642] Aus Rubens' Lehrjahren. zichtet, das Wesen des Lichtes zu erklären, welches nur in der Empfindung selbst seine wahre Begründung hat. Wer wollte aber aus dieser Unkenntnis Goethe einen ernstlichen Vorwurf machen, da über das wirkliche Verhältnis von Geist und Nervensubstanz noch bis auf den heutigen Tag bei den Physiologen so gut wie gar keine vernünftige Ansicht existirt? Zwar hat Kant im vierten Paralogismus der reinen Vernunft die Methode vorgezeichnet, deren sich die Forschung zur Lösung derartiger Pro¬ bleme bedienen muß, aber Gebrauch hat fast niemand davon gemacht. Auf diesem Gebiete also Goethe Unwissenheit und Irrtum vorzuwerfen, das ist ein Vor¬ wurf, der zwar nicht ganz abgewiesen werden kann, der aber die Gegner in noch höherm Maße trifft als ihn. Und so sagen wir zum Schluß: Will einer die Licht- und Farbentheorie studiren, so halte er sich zunächst an die Physiker. Wird ihm dort vielleicht bei weiteren Fortschritt bange, den Zusammenhang der Erscheinungen mit dem ewigen Grunde der Schöpfung und dem menschlichen Geiste zu verlieren, so wende er sich zu Goethe, von dem er zugleich die sinn¬ reichsten Andeutungen über den Zusammenhang der Farbenempfindung mit dem Gemüte des Menschen und seinem Kunstgefühl erhalten wird. Will er endlich über den Gegensatz zwischen beiden Parteien klar werden, so muß er sich in die Entstehung der Gesichtswahrnehmungen nach den Resultaten der Physio¬ logie vertiefen, aber er muß dabei die Erkenntnistheorie Kants als Regulator benutzen, denn nur nach den großen allgemeinen Gesetzen, nach denen unsre Vor¬ stellungen überhaupt entstehen, kann auch die Entstehung der Vorstellungen durch einen einzelnen Sinn ihre Begründung finden. A. Classen. Aus Rubens' Lehrjahren. N n dem großen niederländischen Meister, welcher dem germanischen Geiste sympathischer ist als der gleichgeartete Michelangelo, und welcher dem modernen Geschmack — soll man eS mit Bedauern sagen? — mehr zusagt als Dürer und Holbein, in Rubens er¬ reichte der große Kreislauf, den das wiederbelebte klassische Alter¬ tum im Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts unter italienischem Himmel be¬ gonnen, sein Ende. Er ist der letzte Ausläufer jener künstlerischen Bewegung, die wir unter dem Namen der Renaissance begreifen, und zugleich der letzte schöpferische Geist, welcher den Formen der Antike, die sich bereits in ein ge¬ dankenloses Spiel ohne realen Inhalt zu verflüchtigen drohten, ein neues Leben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/642>, abgerufen am 06.05.2024.