Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Literatur.

nicht möglich sein. Deshalb sehen Sie auch bei Shakspere, daß selbst seine
Bösewichte etwas Kühnes und Großartiges haben, sodaß wir ihnen nicht gram
werden oder sie wenigstens niemals verachten können. Wir nehmen immer ein
lebhaftes Interesse an ihren Schlechtigkeiten und bedauern, daß so tüchtig an¬
gelegte Naturen solcher Verderbnis verfallen sind. In Richard III. sind wir
beinahe geneigt, dem bösen König den Sieg zu wünschen. Das kommt daher,
daß ihm Shaksperes Geist eingehaucht ist, daß es Shakspere selber ist, der ein
Königreich für ein Pferd bietet. Ein großer Dichter wird sowohl gute als
schlechte Menschen mit voller Wahrheit und Kraft erhebend und erschütternd
zeichnen, die erbärmlichen aber, wo er deren in der Handlung bedarf, nur
mit Ironie, und umgekehrt werden wir aus den wahrhaftigen und heroischen
Charakteren des Dramas auf eine große Seele beim Dichter schließen können.
Wo wir aber mir schlechte Menschen geschildert sehen und noch dazu in solcher
Weise, daß wir sie hassen und verachten, da müssen wir annehmen, daß der
Dichter selbst ein kleiner und schlechter Geist sei. (Fortsetzung folgt.)




Literatur.

Charles R, Darwin und die kulturhistorische Bedeutung seiner Theorie vom Ursprung
der Arten. Von Dr. Otto Zacharias, Berlin, Staude, 1882.

Der Verfasser dieser Schrift giebt eine lebhafte Schilderung von Charles
Darwins Leben und Charakter und schließt daran eine sachgemäße und anschauliche
Darstellung der eigentlichen Lehren Darwins und ihrer großen Bedeutung. Die
Abneigung des Verfassers gegen übertriebene metaphysische Spekulationen tritt dabei
ebenso vorteilhaft hervor wie seine unbefangene und liebenswürdige Anerkennung
für die verschiedensten Richtungen und Individualitäten. Fast am besten hat uns
der Schlußsatz gefallen: "Dem dogmatischen Darwinismus, der eine Neigung verrät,
in naturphilosophische Spekulationen zu verfallen, möchte ich den Darwinismus
Darwins, die von wirklichen Thatsachen ausgehende und von Versuch zu Versuch
fortschreitende Methode des großen englischen Forschers empfehlend gegenüberstellen,
die freilich nicht zu schnellen und blendenden, aber zu sichern und für die Wissen¬
schaft allezeit wertvollen Resultaten führt."

Wiewohl aber mit diesen Worten die einfache und grundehrliche Forschungs¬
weise des echten Empirikers in das rechte Licht gesetzt ist, so müssen wir doch an
einigen andern Stellen des Buches bedauern, daß einer gewissen metaphysischen
Spekulation noch zu viel Terrain gegönnt ist. Wir meinen: wenn man einmal
die Grenze zu ziehen versucht, wie weit in den Naturwissenschaften die Spekulation
gehen darf und wie weit die reine Empirie berechtigt ist, und wenn man dabei
auf Kant zurückgeht, dann sollte man auch gründlich dessen vorgezeichnete Bahnen
nachzugehen suchen. Wenn es also z. B. S. 63 heißt: "Wer da glaubt, daß uns
die Darwinsche Selcktionstheorie der Lösung des Lebens- und Eutwütlungsrätsels
auch nur mehr als einen oder einige Schritte näher gebracht habe, der muß von
der unendlichen Komplizirtheit der scheinbar einfachsten Lebensvorgänge keinen
adäquaten Begriff haben" -- so sagen wir: Die Komplizirtheit der Lebensvorgänge
ist es garnicht, die uns verhindert, das große Geheimnis der organischen Natur


Literatur.

nicht möglich sein. Deshalb sehen Sie auch bei Shakspere, daß selbst seine
Bösewichte etwas Kühnes und Großartiges haben, sodaß wir ihnen nicht gram
werden oder sie wenigstens niemals verachten können. Wir nehmen immer ein
lebhaftes Interesse an ihren Schlechtigkeiten und bedauern, daß so tüchtig an¬
gelegte Naturen solcher Verderbnis verfallen sind. In Richard III. sind wir
beinahe geneigt, dem bösen König den Sieg zu wünschen. Das kommt daher,
daß ihm Shaksperes Geist eingehaucht ist, daß es Shakspere selber ist, der ein
Königreich für ein Pferd bietet. Ein großer Dichter wird sowohl gute als
schlechte Menschen mit voller Wahrheit und Kraft erhebend und erschütternd
zeichnen, die erbärmlichen aber, wo er deren in der Handlung bedarf, nur
mit Ironie, und umgekehrt werden wir aus den wahrhaftigen und heroischen
Charakteren des Dramas auf eine große Seele beim Dichter schließen können.
Wo wir aber mir schlechte Menschen geschildert sehen und noch dazu in solcher
Weise, daß wir sie hassen und verachten, da müssen wir annehmen, daß der
Dichter selbst ein kleiner und schlechter Geist sei. (Fortsetzung folgt.)




Literatur.

Charles R, Darwin und die kulturhistorische Bedeutung seiner Theorie vom Ursprung
der Arten. Von Dr. Otto Zacharias, Berlin, Staude, 1882.

Der Verfasser dieser Schrift giebt eine lebhafte Schilderung von Charles
Darwins Leben und Charakter und schließt daran eine sachgemäße und anschauliche
Darstellung der eigentlichen Lehren Darwins und ihrer großen Bedeutung. Die
Abneigung des Verfassers gegen übertriebene metaphysische Spekulationen tritt dabei
ebenso vorteilhaft hervor wie seine unbefangene und liebenswürdige Anerkennung
für die verschiedensten Richtungen und Individualitäten. Fast am besten hat uns
der Schlußsatz gefallen: „Dem dogmatischen Darwinismus, der eine Neigung verrät,
in naturphilosophische Spekulationen zu verfallen, möchte ich den Darwinismus
Darwins, die von wirklichen Thatsachen ausgehende und von Versuch zu Versuch
fortschreitende Methode des großen englischen Forschers empfehlend gegenüberstellen,
die freilich nicht zu schnellen und blendenden, aber zu sichern und für die Wissen¬
schaft allezeit wertvollen Resultaten führt."

Wiewohl aber mit diesen Worten die einfache und grundehrliche Forschungs¬
weise des echten Empirikers in das rechte Licht gesetzt ist, so müssen wir doch an
einigen andern Stellen des Buches bedauern, daß einer gewissen metaphysischen
Spekulation noch zu viel Terrain gegönnt ist. Wir meinen: wenn man einmal
die Grenze zu ziehen versucht, wie weit in den Naturwissenschaften die Spekulation
gehen darf und wie weit die reine Empirie berechtigt ist, und wenn man dabei
auf Kant zurückgeht, dann sollte man auch gründlich dessen vorgezeichnete Bahnen
nachzugehen suchen. Wenn es also z. B. S. 63 heißt: „Wer da glaubt, daß uns
die Darwinsche Selcktionstheorie der Lösung des Lebens- und Eutwütlungsrätsels
auch nur mehr als einen oder einige Schritte näher gebracht habe, der muß von
der unendlichen Komplizirtheit der scheinbar einfachsten Lebensvorgänge keinen
adäquaten Begriff haben" — so sagen wir: Die Komplizirtheit der Lebensvorgänge
ist es garnicht, die uns verhindert, das große Geheimnis der organischen Natur


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0062" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/152819"/>
            <fw type="header" place="top"> Literatur.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_215" prev="#ID_214"> nicht möglich sein. Deshalb sehen Sie auch bei Shakspere, daß selbst seine<lb/>
Bösewichte etwas Kühnes und Großartiges haben, sodaß wir ihnen nicht gram<lb/>
werden oder sie wenigstens niemals verachten können. Wir nehmen immer ein<lb/>
lebhaftes Interesse an ihren Schlechtigkeiten und bedauern, daß so tüchtig an¬<lb/>
gelegte Naturen solcher Verderbnis verfallen sind. In Richard III. sind wir<lb/>
beinahe geneigt, dem bösen König den Sieg zu wünschen. Das kommt daher,<lb/>
daß ihm Shaksperes Geist eingehaucht ist, daß es Shakspere selber ist, der ein<lb/>
Königreich für ein Pferd bietet. Ein großer Dichter wird sowohl gute als<lb/>
schlechte Menschen mit voller Wahrheit und Kraft erhebend und erschütternd<lb/>
zeichnen, die erbärmlichen aber, wo er deren in der Handlung bedarf, nur<lb/>
mit Ironie, und umgekehrt werden wir aus den wahrhaftigen und heroischen<lb/>
Charakteren des Dramas auf eine große Seele beim Dichter schließen können.<lb/>
Wo wir aber mir schlechte Menschen geschildert sehen und noch dazu in solcher<lb/>
Weise, daß wir sie hassen und verachten, da müssen wir annehmen, daß der<lb/>
Dichter selbst ein kleiner und schlechter Geist sei. (Fortsetzung folgt.)</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Literatur.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_216"> Charles R, Darwin und die kulturhistorische Bedeutung seiner Theorie vom Ursprung<lb/>
der Arten.  Von Dr. Otto Zacharias,  Berlin, Staude, 1882.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_217"> Der Verfasser dieser Schrift giebt eine lebhafte Schilderung von Charles<lb/>
Darwins Leben und Charakter und schließt daran eine sachgemäße und anschauliche<lb/>
Darstellung der eigentlichen Lehren Darwins und ihrer großen Bedeutung. Die<lb/>
Abneigung des Verfassers gegen übertriebene metaphysische Spekulationen tritt dabei<lb/>
ebenso vorteilhaft hervor wie seine unbefangene und liebenswürdige Anerkennung<lb/>
für die verschiedensten Richtungen und Individualitäten. Fast am besten hat uns<lb/>
der Schlußsatz gefallen: &#x201E;Dem dogmatischen Darwinismus, der eine Neigung verrät,<lb/>
in naturphilosophische Spekulationen zu verfallen, möchte ich den Darwinismus<lb/>
Darwins, die von wirklichen Thatsachen ausgehende und von Versuch zu Versuch<lb/>
fortschreitende Methode des großen englischen Forschers empfehlend gegenüberstellen,<lb/>
die freilich nicht zu schnellen und blendenden, aber zu sichern und für die Wissen¬<lb/>
schaft allezeit wertvollen Resultaten führt."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_218" next="#ID_219"> Wiewohl aber mit diesen Worten die einfache und grundehrliche Forschungs¬<lb/>
weise des echten Empirikers in das rechte Licht gesetzt ist, so müssen wir doch an<lb/>
einigen andern Stellen des Buches bedauern, daß einer gewissen metaphysischen<lb/>
Spekulation noch zu viel Terrain gegönnt ist. Wir meinen: wenn man einmal<lb/>
die Grenze zu ziehen versucht, wie weit in den Naturwissenschaften die Spekulation<lb/>
gehen darf und wie weit die reine Empirie berechtigt ist, und wenn man dabei<lb/>
auf Kant zurückgeht, dann sollte man auch gründlich dessen vorgezeichnete Bahnen<lb/>
nachzugehen suchen. Wenn es also z. B. S. 63 heißt: &#x201E;Wer da glaubt, daß uns<lb/>
die Darwinsche Selcktionstheorie der Lösung des Lebens- und Eutwütlungsrätsels<lb/>
auch nur mehr als einen oder einige Schritte näher gebracht habe, der muß von<lb/>
der unendlichen Komplizirtheit der scheinbar einfachsten Lebensvorgänge keinen<lb/>
adäquaten Begriff haben" &#x2014; so sagen wir: Die Komplizirtheit der Lebensvorgänge<lb/>
ist es garnicht, die uns verhindert, das große Geheimnis der organischen Natur</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0062] Literatur. nicht möglich sein. Deshalb sehen Sie auch bei Shakspere, daß selbst seine Bösewichte etwas Kühnes und Großartiges haben, sodaß wir ihnen nicht gram werden oder sie wenigstens niemals verachten können. Wir nehmen immer ein lebhaftes Interesse an ihren Schlechtigkeiten und bedauern, daß so tüchtig an¬ gelegte Naturen solcher Verderbnis verfallen sind. In Richard III. sind wir beinahe geneigt, dem bösen König den Sieg zu wünschen. Das kommt daher, daß ihm Shaksperes Geist eingehaucht ist, daß es Shakspere selber ist, der ein Königreich für ein Pferd bietet. Ein großer Dichter wird sowohl gute als schlechte Menschen mit voller Wahrheit und Kraft erhebend und erschütternd zeichnen, die erbärmlichen aber, wo er deren in der Handlung bedarf, nur mit Ironie, und umgekehrt werden wir aus den wahrhaftigen und heroischen Charakteren des Dramas auf eine große Seele beim Dichter schließen können. Wo wir aber mir schlechte Menschen geschildert sehen und noch dazu in solcher Weise, daß wir sie hassen und verachten, da müssen wir annehmen, daß der Dichter selbst ein kleiner und schlechter Geist sei. (Fortsetzung folgt.) Literatur. Charles R, Darwin und die kulturhistorische Bedeutung seiner Theorie vom Ursprung der Arten. Von Dr. Otto Zacharias, Berlin, Staude, 1882. Der Verfasser dieser Schrift giebt eine lebhafte Schilderung von Charles Darwins Leben und Charakter und schließt daran eine sachgemäße und anschauliche Darstellung der eigentlichen Lehren Darwins und ihrer großen Bedeutung. Die Abneigung des Verfassers gegen übertriebene metaphysische Spekulationen tritt dabei ebenso vorteilhaft hervor wie seine unbefangene und liebenswürdige Anerkennung für die verschiedensten Richtungen und Individualitäten. Fast am besten hat uns der Schlußsatz gefallen: „Dem dogmatischen Darwinismus, der eine Neigung verrät, in naturphilosophische Spekulationen zu verfallen, möchte ich den Darwinismus Darwins, die von wirklichen Thatsachen ausgehende und von Versuch zu Versuch fortschreitende Methode des großen englischen Forschers empfehlend gegenüberstellen, die freilich nicht zu schnellen und blendenden, aber zu sichern und für die Wissen¬ schaft allezeit wertvollen Resultaten führt." Wiewohl aber mit diesen Worten die einfache und grundehrliche Forschungs¬ weise des echten Empirikers in das rechte Licht gesetzt ist, so müssen wir doch an einigen andern Stellen des Buches bedauern, daß einer gewissen metaphysischen Spekulation noch zu viel Terrain gegönnt ist. Wir meinen: wenn man einmal die Grenze zu ziehen versucht, wie weit in den Naturwissenschaften die Spekulation gehen darf und wie weit die reine Empirie berechtigt ist, und wenn man dabei auf Kant zurückgeht, dann sollte man auch gründlich dessen vorgezeichnete Bahnen nachzugehen suchen. Wenn es also z. B. S. 63 heißt: „Wer da glaubt, daß uns die Darwinsche Selcktionstheorie der Lösung des Lebens- und Eutwütlungsrätsels auch nur mehr als einen oder einige Schritte näher gebracht habe, der muß von der unendlichen Komplizirtheit der scheinbar einfachsten Lebensvorgänge keinen adäquaten Begriff haben" — so sagen wir: Die Komplizirtheit der Lebensvorgänge ist es garnicht, die uns verhindert, das große Geheimnis der organischen Natur

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/62
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/62>, abgerufen am 05.05.2024.