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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

einem Atem den Faust für eins der größten Gedichte der Weltliteratur und für
ein Sammelsurium zu erklären. Heute dürfte man sich nicht wundern über den
Einwand, daß ja mehr als ein Werk die Verehrung der Welt genieße, das, im
Grunde ohne Plan, in langer Zeit entstanden sei. Man könnte auf den Dom von
Se. Peter, man könnte aus dem Gebiete der Schrift auf den Kanon des alten
und neuen Testamentes hinweisen, man könnte auch die eine Zeit lang herrschende
Entstehungshypothese der homerischen Dichtungen herbeiziehen. Der Einwand
wäre gedankenlos, weil in diesen Werken über das, was in sie aufgenommen
wordeu, nicht der Zufall, sondern eine geistige Notwendigkeit entschieden hat.
Bei dem Faust aber handelt es sich um die Frage, ob die Schöpferkraft
eines großen Dichters nach dem Zufall gewaltet hat oder nach dem Gebot
eines herrschenden, freilich allmählich sich erweiternden und abklärenden Schöpfer¬
willens.

Die Untersuchung, welche in diesem Sinne hier angestellt werden soll, reiht
sich demnach denen an, von welchen G. von Löper, der verdienstvollste Heraus¬
geber des Faust, in seiner Einleitung sagt, indem er Fr. Bischer, I. Schmidt,
K. Fischer, H. Grimm erwähnt, daß diese Untersuchungen die Fruchtbarkeit, aber
auch die Unsicherheit des Bodens zeigen, auf welchem sie angestellt werden. "Nie¬
mandem jedoch, fährt Löper fort, der ernstlich über Faust schreiben will, kann
es erspart bleiben, jenen schlüpfrigen Boden zu betreten, auf die Gefahr hin,
auszugleiten und zu fallen."


2. Die äußern Spuren.

An Spuren, die äußere Entstehung des Faust zu verfolgen, fehlt es uns
nicht. Leider sind es eben nur Spuren der Entstehungsdaten, nicht der Ent¬
stehungsmotive. Goethe selbst hat uns in Dichtung und Wahrheit die ersten
Daten gegeben. Sie reichen natürlich nicht weiter als diese Lebensbeschreibung.
Alsdann enthält die "Chronologie der Entstehung Goethischer Schriften," welche
zuerst der Gesamtausgabe von 1840 beigegeben wurde, eine fortlaufende Reihe
von Angaben über die Entstehung einzelner Teile des Faust, d. h. Angaben,
in welchem Zeitpunkte diese oder jene Szene oder Szenenreihe in Angriff ge¬
nommen oder abgeschlossen worden ist. Was die Entstehung dieser Chrono¬
logie betrifft, so sei hier erwähnt, daß auf Riemers und Eckermanns Antrieb
ein junger Gelehrter, namens Muskulus, mit der Aufgabe betraut wurde, alle
Angaben über die Ursprungsdaten Goethischer Schriften ans Goethes Tage¬
büchern und andern Quellen, z. B. Briefen, auszuziehen. Die Arbeit ist von
Muskulus zweimal, erst in sehr ausführlicher, dann in verkürzter Gestalt, vor¬
gelegt worden. Riemer und Eckermann haben auch die kürzere Zusammen¬
stellung noch wesentlich gekürzt, und so ist sie als "Chronologie" in die Cottaschen
Gesamtausgaben der Goethischen Werke übergegangen. G. v. Löper, der un¬
ermüdliche Goetheforscher, hat beide Manuskripte der von Muskulus versuchten


Die Entstehung des Faust.

einem Atem den Faust für eins der größten Gedichte der Weltliteratur und für
ein Sammelsurium zu erklären. Heute dürfte man sich nicht wundern über den
Einwand, daß ja mehr als ein Werk die Verehrung der Welt genieße, das, im
Grunde ohne Plan, in langer Zeit entstanden sei. Man könnte auf den Dom von
Se. Peter, man könnte aus dem Gebiete der Schrift auf den Kanon des alten
und neuen Testamentes hinweisen, man könnte auch die eine Zeit lang herrschende
Entstehungshypothese der homerischen Dichtungen herbeiziehen. Der Einwand
wäre gedankenlos, weil in diesen Werken über das, was in sie aufgenommen
wordeu, nicht der Zufall, sondern eine geistige Notwendigkeit entschieden hat.
Bei dem Faust aber handelt es sich um die Frage, ob die Schöpferkraft
eines großen Dichters nach dem Zufall gewaltet hat oder nach dem Gebot
eines herrschenden, freilich allmählich sich erweiternden und abklärenden Schöpfer¬
willens.

Die Untersuchung, welche in diesem Sinne hier angestellt werden soll, reiht
sich demnach denen an, von welchen G. von Löper, der verdienstvollste Heraus¬
geber des Faust, in seiner Einleitung sagt, indem er Fr. Bischer, I. Schmidt,
K. Fischer, H. Grimm erwähnt, daß diese Untersuchungen die Fruchtbarkeit, aber
auch die Unsicherheit des Bodens zeigen, auf welchem sie angestellt werden. „Nie¬
mandem jedoch, fährt Löper fort, der ernstlich über Faust schreiben will, kann
es erspart bleiben, jenen schlüpfrigen Boden zu betreten, auf die Gefahr hin,
auszugleiten und zu fallen."


2. Die äußern Spuren.

An Spuren, die äußere Entstehung des Faust zu verfolgen, fehlt es uns
nicht. Leider sind es eben nur Spuren der Entstehungsdaten, nicht der Ent¬
stehungsmotive. Goethe selbst hat uns in Dichtung und Wahrheit die ersten
Daten gegeben. Sie reichen natürlich nicht weiter als diese Lebensbeschreibung.
Alsdann enthält die „Chronologie der Entstehung Goethischer Schriften," welche
zuerst der Gesamtausgabe von 1840 beigegeben wurde, eine fortlaufende Reihe
von Angaben über die Entstehung einzelner Teile des Faust, d. h. Angaben,
in welchem Zeitpunkte diese oder jene Szene oder Szenenreihe in Angriff ge¬
nommen oder abgeschlossen worden ist. Was die Entstehung dieser Chrono¬
logie betrifft, so sei hier erwähnt, daß auf Riemers und Eckermanns Antrieb
ein junger Gelehrter, namens Muskulus, mit der Aufgabe betraut wurde, alle
Angaben über die Ursprungsdaten Goethischer Schriften ans Goethes Tage¬
büchern und andern Quellen, z. B. Briefen, auszuziehen. Die Arbeit ist von
Muskulus zweimal, erst in sehr ausführlicher, dann in verkürzter Gestalt, vor¬
gelegt worden. Riemer und Eckermann haben auch die kürzere Zusammen¬
stellung noch wesentlich gekürzt, und so ist sie als „Chronologie" in die Cottaschen
Gesamtausgaben der Goethischen Werke übergegangen. G. v. Löper, der un¬
ermüdliche Goetheforscher, hat beide Manuskripte der von Muskulus versuchten


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[0449] Die Entstehung des Faust. einem Atem den Faust für eins der größten Gedichte der Weltliteratur und für ein Sammelsurium zu erklären. Heute dürfte man sich nicht wundern über den Einwand, daß ja mehr als ein Werk die Verehrung der Welt genieße, das, im Grunde ohne Plan, in langer Zeit entstanden sei. Man könnte auf den Dom von Se. Peter, man könnte aus dem Gebiete der Schrift auf den Kanon des alten und neuen Testamentes hinweisen, man könnte auch die eine Zeit lang herrschende Entstehungshypothese der homerischen Dichtungen herbeiziehen. Der Einwand wäre gedankenlos, weil in diesen Werken über das, was in sie aufgenommen wordeu, nicht der Zufall, sondern eine geistige Notwendigkeit entschieden hat. Bei dem Faust aber handelt es sich um die Frage, ob die Schöpferkraft eines großen Dichters nach dem Zufall gewaltet hat oder nach dem Gebot eines herrschenden, freilich allmählich sich erweiternden und abklärenden Schöpfer¬ willens. Die Untersuchung, welche in diesem Sinne hier angestellt werden soll, reiht sich demnach denen an, von welchen G. von Löper, der verdienstvollste Heraus¬ geber des Faust, in seiner Einleitung sagt, indem er Fr. Bischer, I. Schmidt, K. Fischer, H. Grimm erwähnt, daß diese Untersuchungen die Fruchtbarkeit, aber auch die Unsicherheit des Bodens zeigen, auf welchem sie angestellt werden. „Nie¬ mandem jedoch, fährt Löper fort, der ernstlich über Faust schreiben will, kann es erspart bleiben, jenen schlüpfrigen Boden zu betreten, auf die Gefahr hin, auszugleiten und zu fallen." 2. Die äußern Spuren. An Spuren, die äußere Entstehung des Faust zu verfolgen, fehlt es uns nicht. Leider sind es eben nur Spuren der Entstehungsdaten, nicht der Ent¬ stehungsmotive. Goethe selbst hat uns in Dichtung und Wahrheit die ersten Daten gegeben. Sie reichen natürlich nicht weiter als diese Lebensbeschreibung. Alsdann enthält die „Chronologie der Entstehung Goethischer Schriften," welche zuerst der Gesamtausgabe von 1840 beigegeben wurde, eine fortlaufende Reihe von Angaben über die Entstehung einzelner Teile des Faust, d. h. Angaben, in welchem Zeitpunkte diese oder jene Szene oder Szenenreihe in Angriff ge¬ nommen oder abgeschlossen worden ist. Was die Entstehung dieser Chrono¬ logie betrifft, so sei hier erwähnt, daß auf Riemers und Eckermanns Antrieb ein junger Gelehrter, namens Muskulus, mit der Aufgabe betraut wurde, alle Angaben über die Ursprungsdaten Goethischer Schriften ans Goethes Tage¬ büchern und andern Quellen, z. B. Briefen, auszuziehen. Die Arbeit ist von Muskulus zweimal, erst in sehr ausführlicher, dann in verkürzter Gestalt, vor¬ gelegt worden. Riemer und Eckermann haben auch die kürzere Zusammen¬ stellung noch wesentlich gekürzt, und so ist sie als „Chronologie" in die Cottaschen Gesamtausgaben der Goethischen Werke übergegangen. G. v. Löper, der un¬ ermüdliche Goetheforscher, hat beide Manuskripte der von Muskulus versuchten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/449>, abgerufen am 03.05.2024.