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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Paul Lindaus Mayo.

An diesen Punkt knüpft auch zunächst die kunsthistorische Stellung und
Bedeutung von Brahms an. Sie ist dem individuellen Werte seiner Werke
mindestens gleich. Uns erscheint es kurzsichtig und ganz unhaltbar, Brahms
für einen bloßen Nachfolger Beethovens oder gar Schumanns auszugeben oder,
wie dies jüngst auch geschehen ist, ihn für einen Vermittler dieser beiden Meister
zu erklären. Zwischen Beethoven und Schumann giebt es garnichts zu ver¬
mitteln. Wohl aber brauchte die Tonkunst nach des letzteren Tode, in der Zeit,
in welche Brahms hineintrat, einer vermittelnden Kraft. Da wogten Elemente
gegeneinander und durcheinander, deren letzte Natur eine kunstverderbende war.
Ans der einen Seite ein philiströser, selbstgefälliger, gedankenschwcicher Formen¬
kultus -- auf der entgegengesetzten eine hochstrebcnde, geistig bewegte, aber un¬
gebildete und rcnommistisch rohe Hyperromantik. Die guten Kräfte dazwischen
ohne festen Halt und Direktion; die einzige gesunde und erfreuliche Erscheinung
in dieser Welt voll Wirrwarr: eine liebenswürdige Klcinmeisterei. Ein Zucht-
meister mußte da kommen, ein Künstler von umfassender, überlegener Bildung,
von Genie und Charakter, der imstande war, die neuen Ideen in die Bahnen
der Ordnung zu leiten und die streitenden Faktoren in einer höhern Einheit
aufzulösen. Heute scharen sich die Tüchtigsten unter unsern jungen Talenten,
diejenigen, welche wirklich gelernt haben, um Brahms; es giebt eine Brahmssche
Schule, die sich nicht aus dem persönlichen Unterricht, sondern aus dem
Beispiel und den Werken des Meisters gebildet hat. Die alten Lager aber
stehen so gut wie leer.


Hermann Kretzschmar.


Paul Lindaus Mayo.

MAH
MA
ß^^F^?cum im nächsten Jahrhundert, in welchem sich doch die von jedem
Historiker der alten Schule geforderte, zur objektiven Behandlung
einer Geschichtsepoche nötige Entfernung vom Gegenstande un¬
zweifelhaft vollzogen haben muß, sich jemand an die Aufgabe
"vagen wird, eine Geschichte der Literatur unsrer Zeit zu schreiben
-- kein Spekulant natürlich, sondern ein ernsthafter Geschichtschreiber --, so
wird er voraussichtlich so klug sein, die Nachrichten und Urteile der gleichzei¬
tigen Tagespresse nicht mit derselben Pietät zu behandeln, wie es kürzlich ein
fleißiger Sammler in bezug auf die Äußerungen der journalistischen Kritik des'
vorigen Jahrhunderts über Lessing, Goethe und Schiller gethan hat. Würde sich


Paul Lindaus Mayo.

An diesen Punkt knüpft auch zunächst die kunsthistorische Stellung und
Bedeutung von Brahms an. Sie ist dem individuellen Werte seiner Werke
mindestens gleich. Uns erscheint es kurzsichtig und ganz unhaltbar, Brahms
für einen bloßen Nachfolger Beethovens oder gar Schumanns auszugeben oder,
wie dies jüngst auch geschehen ist, ihn für einen Vermittler dieser beiden Meister
zu erklären. Zwischen Beethoven und Schumann giebt es garnichts zu ver¬
mitteln. Wohl aber brauchte die Tonkunst nach des letzteren Tode, in der Zeit,
in welche Brahms hineintrat, einer vermittelnden Kraft. Da wogten Elemente
gegeneinander und durcheinander, deren letzte Natur eine kunstverderbende war.
Ans der einen Seite ein philiströser, selbstgefälliger, gedankenschwcicher Formen¬
kultus — auf der entgegengesetzten eine hochstrebcnde, geistig bewegte, aber un¬
gebildete und rcnommistisch rohe Hyperromantik. Die guten Kräfte dazwischen
ohne festen Halt und Direktion; die einzige gesunde und erfreuliche Erscheinung
in dieser Welt voll Wirrwarr: eine liebenswürdige Klcinmeisterei. Ein Zucht-
meister mußte da kommen, ein Künstler von umfassender, überlegener Bildung,
von Genie und Charakter, der imstande war, die neuen Ideen in die Bahnen
der Ordnung zu leiten und die streitenden Faktoren in einer höhern Einheit
aufzulösen. Heute scharen sich die Tüchtigsten unter unsern jungen Talenten,
diejenigen, welche wirklich gelernt haben, um Brahms; es giebt eine Brahmssche
Schule, die sich nicht aus dem persönlichen Unterricht, sondern aus dem
Beispiel und den Werken des Meisters gebildet hat. Die alten Lager aber
stehen so gut wie leer.


Hermann Kretzschmar.


Paul Lindaus Mayo.

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MA
ß^^F^?cum im nächsten Jahrhundert, in welchem sich doch die von jedem
Historiker der alten Schule geforderte, zur objektiven Behandlung
einer Geschichtsepoche nötige Entfernung vom Gegenstande un¬
zweifelhaft vollzogen haben muß, sich jemand an die Aufgabe
»vagen wird, eine Geschichte der Literatur unsrer Zeit zu schreiben
— kein Spekulant natürlich, sondern ein ernsthafter Geschichtschreiber —, so
wird er voraussichtlich so klug sein, die Nachrichten und Urteile der gleichzei¬
tigen Tagespresse nicht mit derselben Pietät zu behandeln, wie es kürzlich ein
fleißiger Sammler in bezug auf die Äußerungen der journalistischen Kritik des'
vorigen Jahrhunderts über Lessing, Goethe und Schiller gethan hat. Würde sich


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[0336] Paul Lindaus Mayo. An diesen Punkt knüpft auch zunächst die kunsthistorische Stellung und Bedeutung von Brahms an. Sie ist dem individuellen Werte seiner Werke mindestens gleich. Uns erscheint es kurzsichtig und ganz unhaltbar, Brahms für einen bloßen Nachfolger Beethovens oder gar Schumanns auszugeben oder, wie dies jüngst auch geschehen ist, ihn für einen Vermittler dieser beiden Meister zu erklären. Zwischen Beethoven und Schumann giebt es garnichts zu ver¬ mitteln. Wohl aber brauchte die Tonkunst nach des letzteren Tode, in der Zeit, in welche Brahms hineintrat, einer vermittelnden Kraft. Da wogten Elemente gegeneinander und durcheinander, deren letzte Natur eine kunstverderbende war. Ans der einen Seite ein philiströser, selbstgefälliger, gedankenschwcicher Formen¬ kultus — auf der entgegengesetzten eine hochstrebcnde, geistig bewegte, aber un¬ gebildete und rcnommistisch rohe Hyperromantik. Die guten Kräfte dazwischen ohne festen Halt und Direktion; die einzige gesunde und erfreuliche Erscheinung in dieser Welt voll Wirrwarr: eine liebenswürdige Klcinmeisterei. Ein Zucht- meister mußte da kommen, ein Künstler von umfassender, überlegener Bildung, von Genie und Charakter, der imstande war, die neuen Ideen in die Bahnen der Ordnung zu leiten und die streitenden Faktoren in einer höhern Einheit aufzulösen. Heute scharen sich die Tüchtigsten unter unsern jungen Talenten, diejenigen, welche wirklich gelernt haben, um Brahms; es giebt eine Brahmssche Schule, die sich nicht aus dem persönlichen Unterricht, sondern aus dem Beispiel und den Werken des Meisters gebildet hat. Die alten Lager aber stehen so gut wie leer. Hermann Kretzschmar. Paul Lindaus Mayo. MAH MA ß^^F^?cum im nächsten Jahrhundert, in welchem sich doch die von jedem Historiker der alten Schule geforderte, zur objektiven Behandlung einer Geschichtsepoche nötige Entfernung vom Gegenstande un¬ zweifelhaft vollzogen haben muß, sich jemand an die Aufgabe »vagen wird, eine Geschichte der Literatur unsrer Zeit zu schreiben — kein Spekulant natürlich, sondern ein ernsthafter Geschichtschreiber —, so wird er voraussichtlich so klug sein, die Nachrichten und Urteile der gleichzei¬ tigen Tagespresse nicht mit derselben Pietät zu behandeln, wie es kürzlich ein fleißiger Sammler in bezug auf die Äußerungen der journalistischen Kritik des' vorigen Jahrhunderts über Lessing, Goethe und Schiller gethan hat. Würde sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/336>, abgerufen am 02.05.2024.