Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite


Englische Politik und deutsche Interessen.

or einiger Zeit (1879) sahen wir uns veranlaßt, einen Blick
auf unser politisches Debet und Kredit in bezug auf Rußland
zu werfen. Heute erscheint es aus Gründen, die auch einem nicht
sehr aufmerksamen Leser der Tagespresse kaum angedeutet zu
werden brauchen, an der Zeit, einmal das Guthaben Englands
in unsern Büchern zu prüfen. Wenn dabei die viel und stark betonte germa¬
nische Vetterschaft, der protestantische Charakter und die Verdienste Englands
um den Liberalismus beiseite bleiben werden, so wolle man uns das zu gute
halten; denn einmal pflegt bei Hervorhebung dieser Qualitäten viel Schein,
Phrase und Parteivorurteil in die Feder zu geraten, und sodann ist es
unsre Absicht, überhaupt nur mit kaufmännischen Auge an unsre Unter¬
suchung zu gehen und uns an das Wort zu halten: An ihren Früchten sollt
ihr sie erkennen.

Der siebenjährige Krieg gehört einer ziemlich fernen Vergangenheit an,
und so wollen wir des Verhaltens, das England während desselben gegen seinen
deutschen Verbündeten beobachtete, nur kurz gedenken. Die Engländer thaten
für Friedrich, obwohl er die Sache der Freiheit und des Protestantismus ver¬
trat, anfangs garnichts und dann zunächst wenig. Pitt verbündete sich mit
Preußen in erster Linie wegen seiner Pläne in Nordamerika und in Ostindien
("Amerika muß in Deutschland erobert werden," sagte er), in zweiter im Hin¬
blick auf Hannover, das von den Franzosen mit einem Einfall bedroht war.
England begriff, daß es ihm beim Ausbruch eines Seekrieges mit Frankreich
zu großem Vorteil gereichen würde, wenn in der Mitte Europas Frieden bliebe,
und daß Friedrich die Erhaltung des Friedens wünschte. In betreff Hannovers


Grenzboten III. 1884. 62


Englische Politik und deutsche Interessen.

or einiger Zeit (1879) sahen wir uns veranlaßt, einen Blick
auf unser politisches Debet und Kredit in bezug auf Rußland
zu werfen. Heute erscheint es aus Gründen, die auch einem nicht
sehr aufmerksamen Leser der Tagespresse kaum angedeutet zu
werden brauchen, an der Zeit, einmal das Guthaben Englands
in unsern Büchern zu prüfen. Wenn dabei die viel und stark betonte germa¬
nische Vetterschaft, der protestantische Charakter und die Verdienste Englands
um den Liberalismus beiseite bleiben werden, so wolle man uns das zu gute
halten; denn einmal pflegt bei Hervorhebung dieser Qualitäten viel Schein,
Phrase und Parteivorurteil in die Feder zu geraten, und sodann ist es
unsre Absicht, überhaupt nur mit kaufmännischen Auge an unsre Unter¬
suchung zu gehen und uns an das Wort zu halten: An ihren Früchten sollt
ihr sie erkennen.

Der siebenjährige Krieg gehört einer ziemlich fernen Vergangenheit an,
und so wollen wir des Verhaltens, das England während desselben gegen seinen
deutschen Verbündeten beobachtete, nur kurz gedenken. Die Engländer thaten
für Friedrich, obwohl er die Sache der Freiheit und des Protestantismus ver¬
trat, anfangs garnichts und dann zunächst wenig. Pitt verbündete sich mit
Preußen in erster Linie wegen seiner Pläne in Nordamerika und in Ostindien
(»Amerika muß in Deutschland erobert werden," sagte er), in zweiter im Hin¬
blick auf Hannover, das von den Franzosen mit einem Einfall bedroht war.
England begriff, daß es ihm beim Ausbruch eines Seekrieges mit Frankreich
zu großem Vorteil gereichen würde, wenn in der Mitte Europas Frieden bliebe,
und daß Friedrich die Erhaltung des Friedens wünschte. In betreff Hannovers


Grenzboten III. 1884. 62
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0497" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/156768"/>
            <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341839_156270/figures/grenzboten_341839_156270_156768_000.jpg"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Englische Politik und deutsche Interessen.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2277"> or einiger Zeit (1879) sahen wir uns veranlaßt, einen Blick<lb/>
auf unser politisches Debet und Kredit in bezug auf Rußland<lb/>
zu werfen. Heute erscheint es aus Gründen, die auch einem nicht<lb/>
sehr aufmerksamen Leser der Tagespresse kaum angedeutet zu<lb/>
werden brauchen, an der Zeit, einmal das Guthaben Englands<lb/>
in unsern Büchern zu prüfen. Wenn dabei die viel und stark betonte germa¬<lb/>
nische Vetterschaft, der protestantische Charakter und die Verdienste Englands<lb/>
um den Liberalismus beiseite bleiben werden, so wolle man uns das zu gute<lb/>
halten; denn einmal pflegt bei Hervorhebung dieser Qualitäten viel Schein,<lb/>
Phrase und Parteivorurteil in die Feder zu geraten, und sodann ist es<lb/>
unsre Absicht, überhaupt nur mit kaufmännischen Auge an unsre Unter¬<lb/>
suchung zu gehen und uns an das Wort zu halten: An ihren Früchten sollt<lb/>
ihr sie erkennen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2278" next="#ID_2279"> Der siebenjährige Krieg gehört einer ziemlich fernen Vergangenheit an,<lb/>
und so wollen wir des Verhaltens, das England während desselben gegen seinen<lb/>
deutschen Verbündeten beobachtete, nur kurz gedenken. Die Engländer thaten<lb/>
für Friedrich, obwohl er die Sache der Freiheit und des Protestantismus ver¬<lb/>
trat, anfangs garnichts und dann zunächst wenig. Pitt verbündete sich mit<lb/>
Preußen in erster Linie wegen seiner Pläne in Nordamerika und in Ostindien<lb/>
(»Amerika muß in Deutschland erobert werden," sagte er), in zweiter im Hin¬<lb/>
blick auf Hannover, das von den Franzosen mit einem Einfall bedroht war.<lb/>
England begriff, daß es ihm beim Ausbruch eines Seekrieges mit Frankreich<lb/>
zu großem Vorteil gereichen würde, wenn in der Mitte Europas Frieden bliebe,<lb/>
und daß Friedrich die Erhaltung des Friedens wünschte. In betreff Hannovers</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1884. 62</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0497] [Abbildung] Englische Politik und deutsche Interessen. or einiger Zeit (1879) sahen wir uns veranlaßt, einen Blick auf unser politisches Debet und Kredit in bezug auf Rußland zu werfen. Heute erscheint es aus Gründen, die auch einem nicht sehr aufmerksamen Leser der Tagespresse kaum angedeutet zu werden brauchen, an der Zeit, einmal das Guthaben Englands in unsern Büchern zu prüfen. Wenn dabei die viel und stark betonte germa¬ nische Vetterschaft, der protestantische Charakter und die Verdienste Englands um den Liberalismus beiseite bleiben werden, so wolle man uns das zu gute halten; denn einmal pflegt bei Hervorhebung dieser Qualitäten viel Schein, Phrase und Parteivorurteil in die Feder zu geraten, und sodann ist es unsre Absicht, überhaupt nur mit kaufmännischen Auge an unsre Unter¬ suchung zu gehen und uns an das Wort zu halten: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Der siebenjährige Krieg gehört einer ziemlich fernen Vergangenheit an, und so wollen wir des Verhaltens, das England während desselben gegen seinen deutschen Verbündeten beobachtete, nur kurz gedenken. Die Engländer thaten für Friedrich, obwohl er die Sache der Freiheit und des Protestantismus ver¬ trat, anfangs garnichts und dann zunächst wenig. Pitt verbündete sich mit Preußen in erster Linie wegen seiner Pläne in Nordamerika und in Ostindien (»Amerika muß in Deutschland erobert werden," sagte er), in zweiter im Hin¬ blick auf Hannover, das von den Franzosen mit einem Einfall bedroht war. England begriff, daß es ihm beim Ausbruch eines Seekrieges mit Frankreich zu großem Vorteil gereichen würde, wenn in der Mitte Europas Frieden bliebe, und daß Friedrich die Erhaltung des Friedens wünschte. In betreff Hannovers Grenzboten III. 1884. 62

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/497
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/497>, abgerufen am 02.05.2024.