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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Literatur.

eingeteilt, von denen jede unter der Kontrole eines Komitees von Schulvorstehern
-- seliool mimaAA's -- steht. Greifen wir einmal zwei von diesen Komitees
heraus und sehen uns deren Zusammensetzung an. Das eine besteht aus einem
Maurer, einem Schuhmacher, einem Apotheker, der Frau des Apothekers, dem
Sekretär eines Advokaten, einem Beamten der Armen Verwaltung und zwei Damen;
das andre aus einem Metzger und seiner Frau, einem Krämer, einem Standes¬
beamten, einem Leichenbesorger, dem Besitzer eines Mictstalles, einem Papier¬
händler und einem Geldleiher. Ein weibliches Mitglied des Londoner School
Board ernannte vor einiger Zeit einen Schornsteinfeger zum Schulvorsteher. Mit
Rücksicht auf seinen Wirkungskreis mag man sich einen Schornsteinfeger als über
andern erdkriechenden Geschöpfen erhaben denken, sein geistiges Niveau liegt
klnftertief unter dem der Jugenderzieher, über deren Einsetzung und Absetzung er
souveräne Gewalt ausübt. In solche Hände also ist die Macht gelegt zur Er¬
nennung von Lehrern, denen die geistige und sittliche Bildung von einer
halben Million von Kindern obliegt. Will man ein Beispiel von der Geistesarmut
und Unwissenheit dieser "Schulvorsteher" -- uns sind deren unzählige zur
Hand --, hier ist eins. Ein Lehrer legt dem Komitee der Schulvorsteher seinen
Jahresbericht vor; der Vorsitzende blickt das Dokument mit besorgnisvoller Miene
an: In der ersten Woche wies die Präsenzliste 96,04, in der zweiten 96,3 Prozent
der verzeichneten Schüler nach! Das Dezimalkomma war natürlich dem gelehrten
Herrn Schulvorsteher eine unbekannte Größe. "Herr, so wendet er sich mit stirn-
rnnzelnder Würde und pathetischen Nachdruck an den Lehrer, wie erklären Sie
diesen außerordentlichen und frevelhaften Abfall?" Kann man sich wundern, wenn
diese Leute oft vor deu Kindern eine geradezu lächerliche Rolle spielen?

Wir sehen, das Volksschulwesen Englands leidet an zwei Fundamentalfehlcrn,
die aus spezifisch englischer Anschauungsweise hervorgegangen sind. Man zeigt ein
übertriebenes Streben, praktisch zu sein, überträgt das praktisch-materielle Element
ans geistig-sittliches Gebiet und zerstört Geist und Sitte, indem man auf den
trostlosen Irrweg gerät, Erziehungsresultate nach Geldwert abwägen zu wollen und
an den kommerziellen Instinkt und den Selbsterhaltungstrieb bei einem Stande zu
nppelliren, der mehr denn jeder andre ans idealem Boden stehen sollte. Man
begeht einen zweiten Radikalfehler, indem man das in allen politischen und sozialen
Institutionen vorherrschende Prinzip des seit' Aoverumönt, der Volkskontrvle und
das Laienregimes, auf einen Zweig des öffentlichen Lebens verpflanzt, wo nur er¬
fahrene Fachmänner Kontrole üben und lebensvolle Anregung geben können.




Literatur.
Liederhort aus Jungfriedel, der Spielmann. Von August Becker. Leipzig,
A. G. Liebeslind, 1884.

In den Noten, die der Verfasser diesen Gedichten am Schlüsse des Bändchens
angehängt hat, bemerkt er: "Unter dem Titel: "Jung Friedel, der Spielmann.
Lyrisch-episches Gedicht aus dem deutschen Volksleben des sechzehnten Jahrhunderts"


Literatur.

eingeteilt, von denen jede unter der Kontrole eines Komitees von Schulvorstehern
— seliool mimaAA's — steht. Greifen wir einmal zwei von diesen Komitees
heraus und sehen uns deren Zusammensetzung an. Das eine besteht aus einem
Maurer, einem Schuhmacher, einem Apotheker, der Frau des Apothekers, dem
Sekretär eines Advokaten, einem Beamten der Armen Verwaltung und zwei Damen;
das andre aus einem Metzger und seiner Frau, einem Krämer, einem Standes¬
beamten, einem Leichenbesorger, dem Besitzer eines Mictstalles, einem Papier¬
händler und einem Geldleiher. Ein weibliches Mitglied des Londoner School
Board ernannte vor einiger Zeit einen Schornsteinfeger zum Schulvorsteher. Mit
Rücksicht auf seinen Wirkungskreis mag man sich einen Schornsteinfeger als über
andern erdkriechenden Geschöpfen erhaben denken, sein geistiges Niveau liegt
klnftertief unter dem der Jugenderzieher, über deren Einsetzung und Absetzung er
souveräne Gewalt ausübt. In solche Hände also ist die Macht gelegt zur Er¬
nennung von Lehrern, denen die geistige und sittliche Bildung von einer
halben Million von Kindern obliegt. Will man ein Beispiel von der Geistesarmut
und Unwissenheit dieser „Schulvorsteher" — uns sind deren unzählige zur
Hand —, hier ist eins. Ein Lehrer legt dem Komitee der Schulvorsteher seinen
Jahresbericht vor; der Vorsitzende blickt das Dokument mit besorgnisvoller Miene
an: In der ersten Woche wies die Präsenzliste 96,04, in der zweiten 96,3 Prozent
der verzeichneten Schüler nach! Das Dezimalkomma war natürlich dem gelehrten
Herrn Schulvorsteher eine unbekannte Größe. „Herr, so wendet er sich mit stirn-
rnnzelnder Würde und pathetischen Nachdruck an den Lehrer, wie erklären Sie
diesen außerordentlichen und frevelhaften Abfall?" Kann man sich wundern, wenn
diese Leute oft vor deu Kindern eine geradezu lächerliche Rolle spielen?

Wir sehen, das Volksschulwesen Englands leidet an zwei Fundamentalfehlcrn,
die aus spezifisch englischer Anschauungsweise hervorgegangen sind. Man zeigt ein
übertriebenes Streben, praktisch zu sein, überträgt das praktisch-materielle Element
ans geistig-sittliches Gebiet und zerstört Geist und Sitte, indem man auf den
trostlosen Irrweg gerät, Erziehungsresultate nach Geldwert abwägen zu wollen und
an den kommerziellen Instinkt und den Selbsterhaltungstrieb bei einem Stande zu
nppelliren, der mehr denn jeder andre ans idealem Boden stehen sollte. Man
begeht einen zweiten Radikalfehler, indem man das in allen politischen und sozialen
Institutionen vorherrschende Prinzip des seit' Aoverumönt, der Volkskontrvle und
das Laienregimes, auf einen Zweig des öffentlichen Lebens verpflanzt, wo nur er¬
fahrene Fachmänner Kontrole üben und lebensvolle Anregung geben können.




Literatur.
Liederhort aus Jungfriedel, der Spielmann. Von August Becker. Leipzig,
A. G. Liebeslind, 1884.

In den Noten, die der Verfasser diesen Gedichten am Schlüsse des Bändchens
angehängt hat, bemerkt er: „Unter dem Titel: »Jung Friedel, der Spielmann.
Lyrisch-episches Gedicht aus dem deutschen Volksleben des sechzehnten Jahrhunderts«


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/159>, abgerufen am 07.05.2024.