Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Literatur.

jeglichen Reizes: sie ist bilderlos und läuft langweilig, häufig in sentimentalen
Reflexionen der gewöhnlichsten Art, dahin. Von einer Komposition der Handlung,
die Steigerung und Spannung des Interesses herbeiführen sollte, keine Spur; jeder
Sinn für bewegte Handlung fehlt, dafür werden breitspurige und unanschauliche
Reiseschildernngen eingeschoben; von objektiver Charakterzeichnung und feinerer
Motivirung ist gleichfalls nichts zu finden. Und wie billig ist das Räsonnireu
gegen den Papst und das Bekunden der wahren christlichen Gesinnung!

Zum Schluß noch ein Wort: Keine Erscheinung in der Kunst verdient eine
schärfere Kritik als die der guten Menschen und schlechten Musikanten, wie uns
der Autor einer zu sein scheint. Diese sind inimer im Besitze einer gewissen Bildung
und Fähigkeit, in Versen zu schreiben; aber sie sind die unglücklichsten aller Pro-
duzirenden, weil ihnen jedwede Individualität mangelt und sie um einen Lorber
ringen, der ihnen nach ihrer Meinung gebührt und doch nie zugestanden werden
kann, weil zur Kunst mehr als bloße allgemeine Bildung und Gutherzigkeit
gehört.


Siebenschön. Ein April-Mai-Märchen in Reimen von Benno Rüttenauer. Leipzig,
A. G. Licbeskind, 1884.

Offenbar ein Erstlingswerk. Ein romantisches Produkt, ein humorvoller Ab¬
sagebrief eines dichterischen Menschen an alle Philisterei, an den Zwang der äußern
Formen der Etikette, an die Heuchelei der Leute von Beruf, die vor dem Neuen,
Unbekannten das Ende ihrer Wissenschaft niemals bekennen möchten, ein enthusia¬
stisches Loblied auf die Jugend, die Poesie und den Frühling und alles Schöne.
Insofern würde man gern mit dem jungen und begabten Autor sympathisiren,
dem es an Geist- und Gestaltnngsgabe nicht fehlt, wenn er nur nicht anch die
Neigung zeigte, sich die Schattenseite der alten Romantik anzueignen, wenn er nur
nicht mit der "Ironie" der Romantiker kokettiren möchte. Davor möchten wir ihn
bewahrt wissen; ohne konkrete Realität, ohne strengere Form in der Komposition
der Handlungen, ohne Vermeiden aller leeren oder überflüssigen Rhetorik ist heut¬
zutage selbst eine romantische Richtung nicht haltbar. Das Spielen mit dem Leser,
das Wissen um den Traum mitten im Träumen ist weder poetisch noch schön,
sondern einfach prosaisch. Zur Charakteristik mögen folgende hübsche Verse hier
ihre Stelle finden:


Ja seht einmal den kühnen Poeten!
Weiß der nicht alles zusammenzutreten,
In toller Romantik Körper und Geist,
Und alles er mit Namen heißt!
Und muß nun erst sich foltern und quälen,
Die tote Sprache zu beseelen,
In neuen Wörterungeheuern
Die ewigen Bilder zu erneuern.
So sind die Dichter und sind dabei froh
Und stammen vor Seligkeit lichterloh,
Als würden sie himmlischen Nektar schlürfen,
Wenn sie sich dichtend quälen dürfen.
Und dünken entführt sich dem irdischen Land,
Und dünken sich den Göttern verwandt,
Und glauben durch das All zu dringen,
Des Weltalls Enden sich nahe zu bringen,
Und glauben -- o Zauberwort! -- zu schaffen.



Für die Redaktion verantwortlich: Dr. Gustav Wustmann in Leipzig in Vertretung.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Reudnitz-Leipzig.
Literatur.

jeglichen Reizes: sie ist bilderlos und läuft langweilig, häufig in sentimentalen
Reflexionen der gewöhnlichsten Art, dahin. Von einer Komposition der Handlung,
die Steigerung und Spannung des Interesses herbeiführen sollte, keine Spur; jeder
Sinn für bewegte Handlung fehlt, dafür werden breitspurige und unanschauliche
Reiseschildernngen eingeschoben; von objektiver Charakterzeichnung und feinerer
Motivirung ist gleichfalls nichts zu finden. Und wie billig ist das Räsonnireu
gegen den Papst und das Bekunden der wahren christlichen Gesinnung!

Zum Schluß noch ein Wort: Keine Erscheinung in der Kunst verdient eine
schärfere Kritik als die der guten Menschen und schlechten Musikanten, wie uns
der Autor einer zu sein scheint. Diese sind inimer im Besitze einer gewissen Bildung
und Fähigkeit, in Versen zu schreiben; aber sie sind die unglücklichsten aller Pro-
duzirenden, weil ihnen jedwede Individualität mangelt und sie um einen Lorber
ringen, der ihnen nach ihrer Meinung gebührt und doch nie zugestanden werden
kann, weil zur Kunst mehr als bloße allgemeine Bildung und Gutherzigkeit
gehört.


Siebenschön. Ein April-Mai-Märchen in Reimen von Benno Rüttenauer. Leipzig,
A. G. Licbeskind, 1884.

Offenbar ein Erstlingswerk. Ein romantisches Produkt, ein humorvoller Ab¬
sagebrief eines dichterischen Menschen an alle Philisterei, an den Zwang der äußern
Formen der Etikette, an die Heuchelei der Leute von Beruf, die vor dem Neuen,
Unbekannten das Ende ihrer Wissenschaft niemals bekennen möchten, ein enthusia¬
stisches Loblied auf die Jugend, die Poesie und den Frühling und alles Schöne.
Insofern würde man gern mit dem jungen und begabten Autor sympathisiren,
dem es an Geist- und Gestaltnngsgabe nicht fehlt, wenn er nur nicht anch die
Neigung zeigte, sich die Schattenseite der alten Romantik anzueignen, wenn er nur
nicht mit der „Ironie" der Romantiker kokettiren möchte. Davor möchten wir ihn
bewahrt wissen; ohne konkrete Realität, ohne strengere Form in der Komposition
der Handlungen, ohne Vermeiden aller leeren oder überflüssigen Rhetorik ist heut¬
zutage selbst eine romantische Richtung nicht haltbar. Das Spielen mit dem Leser,
das Wissen um den Traum mitten im Träumen ist weder poetisch noch schön,
sondern einfach prosaisch. Zur Charakteristik mögen folgende hübsche Verse hier
ihre Stelle finden:


Ja seht einmal den kühnen Poeten!
Weiß der nicht alles zusammenzutreten,
In toller Romantik Körper und Geist,
Und alles er mit Namen heißt!
Und muß nun erst sich foltern und quälen,
Die tote Sprache zu beseelen,
In neuen Wörterungeheuern
Die ewigen Bilder zu erneuern.
So sind die Dichter und sind dabei froh
Und stammen vor Seligkeit lichterloh,
Als würden sie himmlischen Nektar schlürfen,
Wenn sie sich dichtend quälen dürfen.
Und dünken entführt sich dem irdischen Land,
Und dünken sich den Göttern verwandt,
Und glauben durch das All zu dringen,
Des Weltalls Enden sich nahe zu bringen,
Und glauben — o Zauberwort! — zu schaffen.



Für die Redaktion verantwortlich: Dr. Gustav Wustmann in Leipzig in Vertretung.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Reudnitz-Leipzig.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0064" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/156989"/>
            <fw type="header" place="top"> Literatur.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_209" prev="#ID_208"> jeglichen Reizes: sie ist bilderlos und läuft langweilig, häufig in sentimentalen<lb/>
Reflexionen der gewöhnlichsten Art, dahin. Von einer Komposition der Handlung,<lb/>
die Steigerung und Spannung des Interesses herbeiführen sollte, keine Spur; jeder<lb/>
Sinn für bewegte Handlung fehlt, dafür werden breitspurige und unanschauliche<lb/>
Reiseschildernngen eingeschoben; von objektiver Charakterzeichnung und feinerer<lb/>
Motivirung ist gleichfalls nichts zu finden. Und wie billig ist das Räsonnireu<lb/>
gegen den Papst und das Bekunden der wahren christlichen Gesinnung!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_210"> Zum Schluß noch ein Wort: Keine Erscheinung in der Kunst verdient eine<lb/>
schärfere Kritik als die der guten Menschen und schlechten Musikanten, wie uns<lb/>
der Autor einer zu sein scheint. Diese sind inimer im Besitze einer gewissen Bildung<lb/>
und Fähigkeit, in Versen zu schreiben; aber sie sind die unglücklichsten aller Pro-<lb/>
duzirenden, weil ihnen jedwede Individualität mangelt und sie um einen Lorber<lb/>
ringen, der ihnen nach ihrer Meinung gebührt und doch nie zugestanden werden<lb/>
kann, weil zur Kunst mehr als bloße allgemeine Bildung und Gutherzigkeit<lb/>
gehört.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Siebenschön.  Ein April-Mai-Märchen in Reimen von Benno Rüttenauer. Leipzig,<lb/>
A. G. Licbeskind, 1884.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_211"> Offenbar ein Erstlingswerk. Ein romantisches Produkt, ein humorvoller Ab¬<lb/>
sagebrief eines dichterischen Menschen an alle Philisterei, an den Zwang der äußern<lb/>
Formen der Etikette, an die Heuchelei der Leute von Beruf, die vor dem Neuen,<lb/>
Unbekannten das Ende ihrer Wissenschaft niemals bekennen möchten, ein enthusia¬<lb/>
stisches Loblied auf die Jugend, die Poesie und den Frühling und alles Schöne.<lb/>
Insofern würde man gern mit dem jungen und begabten Autor sympathisiren,<lb/>
dem es an Geist- und Gestaltnngsgabe nicht fehlt, wenn er nur nicht anch die<lb/>
Neigung zeigte, sich die Schattenseite der alten Romantik anzueignen, wenn er nur<lb/>
nicht mit der &#x201E;Ironie" der Romantiker kokettiren möchte. Davor möchten wir ihn<lb/>
bewahrt wissen; ohne konkrete Realität, ohne strengere Form in der Komposition<lb/>
der Handlungen, ohne Vermeiden aller leeren oder überflüssigen Rhetorik ist heut¬<lb/>
zutage selbst eine romantische Richtung nicht haltbar. Das Spielen mit dem Leser,<lb/>
das Wissen um den Traum mitten im Träumen ist weder poetisch noch schön,<lb/>
sondern einfach prosaisch. Zur Charakteristik mögen folgende hübsche Verse hier<lb/>
ihre Stelle finden:</p><lb/>
            <quote>
              <lg xml:id="POEMID_4" type="poem">
                <l> Ja seht einmal den kühnen Poeten!<lb/>
Weiß der nicht alles zusammenzutreten,<lb/>
In toller Romantik Körper und Geist,<lb/>
Und alles er mit Namen heißt!<lb/>
Und muß nun erst sich foltern und quälen,<lb/>
Die tote Sprache zu beseelen,<lb/>
In neuen Wörterungeheuern<lb/>
Die ewigen Bilder zu erneuern.<lb/>
So sind die Dichter und sind dabei froh<lb/>
Und stammen vor Seligkeit lichterloh,<lb/>
Als würden sie himmlischen Nektar schlürfen,<lb/>
Wenn sie sich dichtend quälen dürfen.<lb/>
Und dünken entführt sich dem irdischen Land,<lb/>
Und dünken sich den Göttern verwandt,<lb/>
Und glauben durch das All zu dringen,<lb/>
Des Weltalls Enden sich nahe zu bringen,<lb/>
Und glauben &#x2014; o Zauberwort! &#x2014; zu schaffen.</l>
              </lg>
            </quote><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <note type="byline"> Für die Redaktion verantwortlich: Dr. Gustav Wustmann in Leipzig in Vertretung.<lb/>
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. &#x2014; Druck von Carl Marquart in Reudnitz-Leipzig.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0064] Literatur. jeglichen Reizes: sie ist bilderlos und läuft langweilig, häufig in sentimentalen Reflexionen der gewöhnlichsten Art, dahin. Von einer Komposition der Handlung, die Steigerung und Spannung des Interesses herbeiführen sollte, keine Spur; jeder Sinn für bewegte Handlung fehlt, dafür werden breitspurige und unanschauliche Reiseschildernngen eingeschoben; von objektiver Charakterzeichnung und feinerer Motivirung ist gleichfalls nichts zu finden. Und wie billig ist das Räsonnireu gegen den Papst und das Bekunden der wahren christlichen Gesinnung! Zum Schluß noch ein Wort: Keine Erscheinung in der Kunst verdient eine schärfere Kritik als die der guten Menschen und schlechten Musikanten, wie uns der Autor einer zu sein scheint. Diese sind inimer im Besitze einer gewissen Bildung und Fähigkeit, in Versen zu schreiben; aber sie sind die unglücklichsten aller Pro- duzirenden, weil ihnen jedwede Individualität mangelt und sie um einen Lorber ringen, der ihnen nach ihrer Meinung gebührt und doch nie zugestanden werden kann, weil zur Kunst mehr als bloße allgemeine Bildung und Gutherzigkeit gehört. Siebenschön. Ein April-Mai-Märchen in Reimen von Benno Rüttenauer. Leipzig, A. G. Licbeskind, 1884. Offenbar ein Erstlingswerk. Ein romantisches Produkt, ein humorvoller Ab¬ sagebrief eines dichterischen Menschen an alle Philisterei, an den Zwang der äußern Formen der Etikette, an die Heuchelei der Leute von Beruf, die vor dem Neuen, Unbekannten das Ende ihrer Wissenschaft niemals bekennen möchten, ein enthusia¬ stisches Loblied auf die Jugend, die Poesie und den Frühling und alles Schöne. Insofern würde man gern mit dem jungen und begabten Autor sympathisiren, dem es an Geist- und Gestaltnngsgabe nicht fehlt, wenn er nur nicht anch die Neigung zeigte, sich die Schattenseite der alten Romantik anzueignen, wenn er nur nicht mit der „Ironie" der Romantiker kokettiren möchte. Davor möchten wir ihn bewahrt wissen; ohne konkrete Realität, ohne strengere Form in der Komposition der Handlungen, ohne Vermeiden aller leeren oder überflüssigen Rhetorik ist heut¬ zutage selbst eine romantische Richtung nicht haltbar. Das Spielen mit dem Leser, das Wissen um den Traum mitten im Träumen ist weder poetisch noch schön, sondern einfach prosaisch. Zur Charakteristik mögen folgende hübsche Verse hier ihre Stelle finden: Ja seht einmal den kühnen Poeten! Weiß der nicht alles zusammenzutreten, In toller Romantik Körper und Geist, Und alles er mit Namen heißt! Und muß nun erst sich foltern und quälen, Die tote Sprache zu beseelen, In neuen Wörterungeheuern Die ewigen Bilder zu erneuern. So sind die Dichter und sind dabei froh Und stammen vor Seligkeit lichterloh, Als würden sie himmlischen Nektar schlürfen, Wenn sie sich dichtend quälen dürfen. Und dünken entführt sich dem irdischen Land, Und dünken sich den Göttern verwandt, Und glauben durch das All zu dringen, Des Weltalls Enden sich nahe zu bringen, Und glauben — o Zauberwort! — zu schaffen. Für die Redaktion verantwortlich: Dr. Gustav Wustmann in Leipzig in Vertretung. Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Reudnitz-Leipzig.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/64
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/64>, abgerufen am 08.05.2024.