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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Zweites Quartal.

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Kanzler und Bundesrat.

le im Bundesrat unter persönlicher Leitung des Reichskanzlers
verhandelte Frage über ein verantwortliches Neichsministerium
hat die liberalen Kirchturmspolitiker zu allerlei mehr oder minder
geschmackvollen Betrachtungen veranlaßt, nicht aber -- wie es
eigentlich der wahren Sachlage entsprochen hatte -- zu einer
Einkehr in sich selbst. Vor Schaffung des Norddeutschen Bundes bez. Gründung
des Reiches haben zwei anscheinend unversöhnliche Strömungen den politischen
Gedanken der Nation bewegt; die eine, von der Mehrzahl der liberalen Führer
getragene, drängte zum Einheitsstaate mit parlamentarischem Regiment, die
andre, von den Regierungen begünstigte, suchte mehr und mehr das politische
Band der deutschen Stämme zu lockern, in der gerechtfertigten Furcht, daß
mit der Herstellung eines Einheitsstaates die Herrschaft der einzelnen Bundes¬
regierungen zertrümmert werden würde. Diese Gegensätze, begründet in der
ganzen Entwicklung deutscher Geschichte, in dem zu dem Gemeinsamen wie zu
dem Besondern strebenden Charakter des einzelnen deutschen Volksstammes, schienen
einer Aussöhnung unzugänglich. Nicht die Schützenseste des Herzogs von Koburg
und der Frankfurter großdeutschcn Demokraten, noch die Sangesfeste des Herrn
von Beust, noch der Natioualvcrein des Herrn von Bennigsen waren imstande,
diese Gegensätze auszugleichen; es bedürfte hierzu eines mächtigern Kieles und
eines größern Geistes. Blut und Eisen haben erst das große Werk zustande
gebracht und die weise Politik eines von einem erleuchtete" Staatsmanne
beratenen Monarchen.

Die Reichsverfassung hat es verstanden, den beiden Seiten des deutschen
Charakters einen festen und sichern Halt zu geben; stramme Einheit mit fast
ausschließlich preußischer Herrschaft, soweit es sich um den Schutz nach außen


Grenzboten II. 1384. 20


Kanzler und Bundesrat.

le im Bundesrat unter persönlicher Leitung des Reichskanzlers
verhandelte Frage über ein verantwortliches Neichsministerium
hat die liberalen Kirchturmspolitiker zu allerlei mehr oder minder
geschmackvollen Betrachtungen veranlaßt, nicht aber — wie es
eigentlich der wahren Sachlage entsprochen hatte — zu einer
Einkehr in sich selbst. Vor Schaffung des Norddeutschen Bundes bez. Gründung
des Reiches haben zwei anscheinend unversöhnliche Strömungen den politischen
Gedanken der Nation bewegt; die eine, von der Mehrzahl der liberalen Führer
getragene, drängte zum Einheitsstaate mit parlamentarischem Regiment, die
andre, von den Regierungen begünstigte, suchte mehr und mehr das politische
Band der deutschen Stämme zu lockern, in der gerechtfertigten Furcht, daß
mit der Herstellung eines Einheitsstaates die Herrschaft der einzelnen Bundes¬
regierungen zertrümmert werden würde. Diese Gegensätze, begründet in der
ganzen Entwicklung deutscher Geschichte, in dem zu dem Gemeinsamen wie zu
dem Besondern strebenden Charakter des einzelnen deutschen Volksstammes, schienen
einer Aussöhnung unzugänglich. Nicht die Schützenseste des Herzogs von Koburg
und der Frankfurter großdeutschcn Demokraten, noch die Sangesfeste des Herrn
von Beust, noch der Natioualvcrein des Herrn von Bennigsen waren imstande,
diese Gegensätze auszugleichen; es bedürfte hierzu eines mächtigern Kieles und
eines größern Geistes. Blut und Eisen haben erst das große Werk zustande
gebracht und die weise Politik eines von einem erleuchtete» Staatsmanne
beratenen Monarchen.

Die Reichsverfassung hat es verstanden, den beiden Seiten des deutschen
Charakters einen festen und sichern Halt zu geben; stramme Einheit mit fast
ausschließlich preußischer Herrschaft, soweit es sich um den Schutz nach außen


Grenzboten II. 1384. 20
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[0161] [Abbildung] Kanzler und Bundesrat. le im Bundesrat unter persönlicher Leitung des Reichskanzlers verhandelte Frage über ein verantwortliches Neichsministerium hat die liberalen Kirchturmspolitiker zu allerlei mehr oder minder geschmackvollen Betrachtungen veranlaßt, nicht aber — wie es eigentlich der wahren Sachlage entsprochen hatte — zu einer Einkehr in sich selbst. Vor Schaffung des Norddeutschen Bundes bez. Gründung des Reiches haben zwei anscheinend unversöhnliche Strömungen den politischen Gedanken der Nation bewegt; die eine, von der Mehrzahl der liberalen Führer getragene, drängte zum Einheitsstaate mit parlamentarischem Regiment, die andre, von den Regierungen begünstigte, suchte mehr und mehr das politische Band der deutschen Stämme zu lockern, in der gerechtfertigten Furcht, daß mit der Herstellung eines Einheitsstaates die Herrschaft der einzelnen Bundes¬ regierungen zertrümmert werden würde. Diese Gegensätze, begründet in der ganzen Entwicklung deutscher Geschichte, in dem zu dem Gemeinsamen wie zu dem Besondern strebenden Charakter des einzelnen deutschen Volksstammes, schienen einer Aussöhnung unzugänglich. Nicht die Schützenseste des Herzogs von Koburg und der Frankfurter großdeutschcn Demokraten, noch die Sangesfeste des Herrn von Beust, noch der Natioualvcrein des Herrn von Bennigsen waren imstande, diese Gegensätze auszugleichen; es bedürfte hierzu eines mächtigern Kieles und eines größern Geistes. Blut und Eisen haben erst das große Werk zustande gebracht und die weise Politik eines von einem erleuchtete» Staatsmanne beratenen Monarchen. Die Reichsverfassung hat es verstanden, den beiden Seiten des deutschen Charakters einen festen und sichern Halt zu geben; stramme Einheit mit fast ausschließlich preußischer Herrschaft, soweit es sich um den Schutz nach außen Grenzboten II. 1384. 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158166/161>, abgerufen am 02.05.2024.