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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Zweites Quartal.

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ist der Antrag sicher, und diese wird schon wissen, "Stimmung" dafür zu machen,
d. h, den lieben Wählern "Sand in die Augen zu streuen,"

Wir resümiren : Der Antrag Philipps-Lcnzmann ist zunächst eine ungehörige
Belästigung des Reichstages, weil er unannehmbar und der Reichstag ohnehin
mit Arbeiten überhäuft ist. Der Antrag entspringt keinem praktischen Bedürfnis,
weil bei unsern wohlgeordneten gesetzlichen Anstünden keine Veranlassung zu
sogenannten politischen Verbrechen vorhanden, und eventuell die hierfür jetzt
zuständigen Gerichte uicht nur ausreichend, sondern auch geeigneter sind. Das
Gesetz wäre juristisch verfehlt und unlogisch, weil es eine Klasse von strafbaren
Handlungen fingirt, welche überhaupt uicht existirt, indem es dieselbe nicht nach
der rechtlichen Qualität, sondern nach dem Motiv konstruirt; es ist aber auch
Praktisch unannehmbar, weil es strafbaren Handlungen ein Privilegium verleiht,
und zwar nicht, was sich allenfalls mit dem direkt angegriffenen Staatsinteresse
rechtfertigen ließe, ein Privilegium ocliosum, sondern ein Privilegium kg,vorg,hilf,
und nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit in der Sache selbst, sondern aus
davon unabhängigen politischen Rücksichten, nämlich um dem Fraktivnsinteresse
und den demokratischen Parteizielen der Fortschrittspartei zu dienen.

Somit ist dieser Antrag der Fortschrittspartei, wie soviele seiner Ge¬
schwister, an sich harmlos, weil er niemals zum Gesetz erhoben werden wird;
trotzdem aber interessant, weil er ein eklatanter Beleg sür die gefährliche Politik
dieser Partei und deshalb ein neues Argument für das Ostsrum osnsso des
Fürsten Bismarck bei der Debatte über das Sozialisteugcsetz ist, daß, wer es
mit dem Vaterlande gut meint, keinen Fortschrittler wählen darf!


L. Graeser.


2. Der Schutz gegen ungerechtfertigte Freisprechungen.

Während von dem fortgeschrittenen und doktrinären Liberalismus nicht
genug hervorgehoben werden kann, daß für den friedlichen Bürger Schutz im
Staate nicht durch irgendwelche Verwaltungs- oder gar Polizeibehörden, sondern
einzig und allein durch die Gerichte gewährt werden kann, welche deshalb nicht
unabhängig und selbständig genug gestellt werden können, wird neuerdings die
Ansicht aufgestellt und stark vertreten, daß selbst der richterliche Schutz nicht
mehr genüge, daß man vielmehr Schutz gegen die Gerichte haben müsse, weil
diese gar so viele Unschuldige verurteilten. Wenn in dieser Richtung konsequent
weitergegangen werden soll, dann wird man bald zu der Ansicht gelangen,
daß derjenige Richter am besten seine Pflicht erfülle, welcher am meisten freispricht,
daß also der Richter nicht mehr unparteiisch über beiden Seiten, dem Ankläger
und dem Angeschuldigten, thronen, sondern die Rolle des Verteidigers des An-


ist der Antrag sicher, und diese wird schon wissen, „Stimmung" dafür zu machen,
d. h, den lieben Wählern „Sand in die Augen zu streuen,"

Wir resümiren : Der Antrag Philipps-Lcnzmann ist zunächst eine ungehörige
Belästigung des Reichstages, weil er unannehmbar und der Reichstag ohnehin
mit Arbeiten überhäuft ist. Der Antrag entspringt keinem praktischen Bedürfnis,
weil bei unsern wohlgeordneten gesetzlichen Anstünden keine Veranlassung zu
sogenannten politischen Verbrechen vorhanden, und eventuell die hierfür jetzt
zuständigen Gerichte uicht nur ausreichend, sondern auch geeigneter sind. Das
Gesetz wäre juristisch verfehlt und unlogisch, weil es eine Klasse von strafbaren
Handlungen fingirt, welche überhaupt uicht existirt, indem es dieselbe nicht nach
der rechtlichen Qualität, sondern nach dem Motiv konstruirt; es ist aber auch
Praktisch unannehmbar, weil es strafbaren Handlungen ein Privilegium verleiht,
und zwar nicht, was sich allenfalls mit dem direkt angegriffenen Staatsinteresse
rechtfertigen ließe, ein Privilegium ocliosum, sondern ein Privilegium kg,vorg,hilf,
und nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit in der Sache selbst, sondern aus
davon unabhängigen politischen Rücksichten, nämlich um dem Fraktivnsinteresse
und den demokratischen Parteizielen der Fortschrittspartei zu dienen.

Somit ist dieser Antrag der Fortschrittspartei, wie soviele seiner Ge¬
schwister, an sich harmlos, weil er niemals zum Gesetz erhoben werden wird;
trotzdem aber interessant, weil er ein eklatanter Beleg sür die gefährliche Politik
dieser Partei und deshalb ein neues Argument für das Ostsrum osnsso des
Fürsten Bismarck bei der Debatte über das Sozialisteugcsetz ist, daß, wer es
mit dem Vaterlande gut meint, keinen Fortschrittler wählen darf!


L. Graeser.


2. Der Schutz gegen ungerechtfertigte Freisprechungen.

Während von dem fortgeschrittenen und doktrinären Liberalismus nicht
genug hervorgehoben werden kann, daß für den friedlichen Bürger Schutz im
Staate nicht durch irgendwelche Verwaltungs- oder gar Polizeibehörden, sondern
einzig und allein durch die Gerichte gewährt werden kann, welche deshalb nicht
unabhängig und selbständig genug gestellt werden können, wird neuerdings die
Ansicht aufgestellt und stark vertreten, daß selbst der richterliche Schutz nicht
mehr genüge, daß man vielmehr Schutz gegen die Gerichte haben müsse, weil
diese gar so viele Unschuldige verurteilten. Wenn in dieser Richtung konsequent
weitergegangen werden soll, dann wird man bald zu der Ansicht gelangen,
daß derjenige Richter am besten seine Pflicht erfülle, welcher am meisten freispricht,
daß also der Richter nicht mehr unparteiisch über beiden Seiten, dem Ankläger
und dem Angeschuldigten, thronen, sondern die Rolle des Verteidigers des An-


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[0479] ist der Antrag sicher, und diese wird schon wissen, „Stimmung" dafür zu machen, d. h, den lieben Wählern „Sand in die Augen zu streuen," Wir resümiren : Der Antrag Philipps-Lcnzmann ist zunächst eine ungehörige Belästigung des Reichstages, weil er unannehmbar und der Reichstag ohnehin mit Arbeiten überhäuft ist. Der Antrag entspringt keinem praktischen Bedürfnis, weil bei unsern wohlgeordneten gesetzlichen Anstünden keine Veranlassung zu sogenannten politischen Verbrechen vorhanden, und eventuell die hierfür jetzt zuständigen Gerichte uicht nur ausreichend, sondern auch geeigneter sind. Das Gesetz wäre juristisch verfehlt und unlogisch, weil es eine Klasse von strafbaren Handlungen fingirt, welche überhaupt uicht existirt, indem es dieselbe nicht nach der rechtlichen Qualität, sondern nach dem Motiv konstruirt; es ist aber auch Praktisch unannehmbar, weil es strafbaren Handlungen ein Privilegium verleiht, und zwar nicht, was sich allenfalls mit dem direkt angegriffenen Staatsinteresse rechtfertigen ließe, ein Privilegium ocliosum, sondern ein Privilegium kg,vorg,hilf, und nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit in der Sache selbst, sondern aus davon unabhängigen politischen Rücksichten, nämlich um dem Fraktivnsinteresse und den demokratischen Parteizielen der Fortschrittspartei zu dienen. Somit ist dieser Antrag der Fortschrittspartei, wie soviele seiner Ge¬ schwister, an sich harmlos, weil er niemals zum Gesetz erhoben werden wird; trotzdem aber interessant, weil er ein eklatanter Beleg sür die gefährliche Politik dieser Partei und deshalb ein neues Argument für das Ostsrum osnsso des Fürsten Bismarck bei der Debatte über das Sozialisteugcsetz ist, daß, wer es mit dem Vaterlande gut meint, keinen Fortschrittler wählen darf! L. Graeser. 2. Der Schutz gegen ungerechtfertigte Freisprechungen. Während von dem fortgeschrittenen und doktrinären Liberalismus nicht genug hervorgehoben werden kann, daß für den friedlichen Bürger Schutz im Staate nicht durch irgendwelche Verwaltungs- oder gar Polizeibehörden, sondern einzig und allein durch die Gerichte gewährt werden kann, welche deshalb nicht unabhängig und selbständig genug gestellt werden können, wird neuerdings die Ansicht aufgestellt und stark vertreten, daß selbst der richterliche Schutz nicht mehr genüge, daß man vielmehr Schutz gegen die Gerichte haben müsse, weil diese gar so viele Unschuldige verurteilten. Wenn in dieser Richtung konsequent weitergegangen werden soll, dann wird man bald zu der Ansicht gelangen, daß derjenige Richter am besten seine Pflicht erfülle, welcher am meisten freispricht, daß also der Richter nicht mehr unparteiisch über beiden Seiten, dem Ankläger und dem Angeschuldigten, thronen, sondern die Rolle des Verteidigers des An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158166/479>, abgerufen am 02.05.2024.