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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Zweites Quartal.

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Juristische Fragen.

richterlichen Haftbefehls der Staatsanwalt die Aufnahme Angeschuldigter in das
Gefängnis verweigerte, weil sie nicht zuvor einem Reinigungsverfahren unterzogen
worden waren, und einen Verhafteten wieder, trotz des richerlichen Haftbefehls, ent¬
ließ, weil derselbe mit einem körperlichen Leiden behaftet war, welches sein Ver¬
bleiben im Gefängnisse mit dessen Ordnung und Reinlichkeit unverträglich erscheinen
ließ. Nimmt aber auch der Staatsanwalt einen Angeschuldigten in das Gefängnis
auf, so thut er dies nur auf Grund eines richterlichen Haftbefehls, wodurch die
Bestimmung, daß der Richter einen Tag Frist zur Vernehmung des verhaftet
Angeschuldigten habe (§ 115 der Strafprozeßordnung), illusorisch wird; der
Richter muß vielmehr den von der Polizei ihm Angeführten Angeschuldigten sofort
mitten zwischen seiner übrigen Geschäften gleichsam im Sturme vernehmen, um
ihn nur loszuwerden, da er selbst ein Verhaftungslokal nicht besitzt. Ob eine
derartige Vernehmung dem Interesse der Strafrechtspflege entspricht, mag
dahingestellt bleiben!

Es sind hier nur einige Punkte hervorgehoben worden, welche im Interesse
einer energischen Verfolgung der Gesetzesübertretungen einer Revision bedürfen.
Wenn sich die Gesetzgebung selbst von der Tendenz leiten läßt, in übertriebner
Weise den Angeklagren geradezu bei der Aburteilung der Gesetzesübertretungen
zu begünstigen, dann ist es selbstverständlich, daß die Gerichte hieraus die
Konsequenz ziehen müssen und danach auch immer mehr die Anklage vom Ge¬
sichtspunkt des Angeklagten aus betrachten lernen. Das Leben aber zieht daraus
noch weitere Konsequenzen und begehrt bereits jetzt, wie wir eingangs gesehen,
Schutz gegen die Gerichte. Hier gilt es also einzuschreiten, ehe es zu spät ist.


V. Gerland.


3. Zur Revision der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfafsungsgesetzes.

Kaum sind die großen Justizgcsetze etwas über vier Jahre in Wirkung,
und schon werden zahlreiche Stimmen laut, die eine Revision derselben in ein¬
zelnen, mitunter den prinzipiellsten Punkten verlangen. Insbesondre ist es die
Strafprozeßordnung, die den Stein des Anstoßes in wichtigen Bestimmungen
bildet. Ich erinnere nur an das Verlangen nach Wiedereinführung der Be¬
rufung, das bereits lebhafte Diskussionen hervorgerufen hat und sich schon in
dem verhältnismäßig vorgerückten Stadium gesetzgeberischer Behandlung befindet.
Hieraus läßt sich schließe", daß in kürzerer oder längerer Frist eine mehr oder
weniger umfassende Revision der Strafprozeßordnung und der etwa dadurch be¬
rührt werdenden Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes bevorsteht. Zweck
dieser Zeilen ist es, auf ein Bedürfnis aufmerksam zu machen, das dem Praktiker
sehr häufig fühlbar wird und für das Abhilfe zu treffen vielleicht bei einer


Juristische Fragen.

richterlichen Haftbefehls der Staatsanwalt die Aufnahme Angeschuldigter in das
Gefängnis verweigerte, weil sie nicht zuvor einem Reinigungsverfahren unterzogen
worden waren, und einen Verhafteten wieder, trotz des richerlichen Haftbefehls, ent¬
ließ, weil derselbe mit einem körperlichen Leiden behaftet war, welches sein Ver¬
bleiben im Gefängnisse mit dessen Ordnung und Reinlichkeit unverträglich erscheinen
ließ. Nimmt aber auch der Staatsanwalt einen Angeschuldigten in das Gefängnis
auf, so thut er dies nur auf Grund eines richterlichen Haftbefehls, wodurch die
Bestimmung, daß der Richter einen Tag Frist zur Vernehmung des verhaftet
Angeschuldigten habe (§ 115 der Strafprozeßordnung), illusorisch wird; der
Richter muß vielmehr den von der Polizei ihm Angeführten Angeschuldigten sofort
mitten zwischen seiner übrigen Geschäften gleichsam im Sturme vernehmen, um
ihn nur loszuwerden, da er selbst ein Verhaftungslokal nicht besitzt. Ob eine
derartige Vernehmung dem Interesse der Strafrechtspflege entspricht, mag
dahingestellt bleiben!

Es sind hier nur einige Punkte hervorgehoben worden, welche im Interesse
einer energischen Verfolgung der Gesetzesübertretungen einer Revision bedürfen.
Wenn sich die Gesetzgebung selbst von der Tendenz leiten läßt, in übertriebner
Weise den Angeklagren geradezu bei der Aburteilung der Gesetzesübertretungen
zu begünstigen, dann ist es selbstverständlich, daß die Gerichte hieraus die
Konsequenz ziehen müssen und danach auch immer mehr die Anklage vom Ge¬
sichtspunkt des Angeklagten aus betrachten lernen. Das Leben aber zieht daraus
noch weitere Konsequenzen und begehrt bereits jetzt, wie wir eingangs gesehen,
Schutz gegen die Gerichte. Hier gilt es also einzuschreiten, ehe es zu spät ist.


V. Gerland.


3. Zur Revision der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfafsungsgesetzes.

Kaum sind die großen Justizgcsetze etwas über vier Jahre in Wirkung,
und schon werden zahlreiche Stimmen laut, die eine Revision derselben in ein¬
zelnen, mitunter den prinzipiellsten Punkten verlangen. Insbesondre ist es die
Strafprozeßordnung, die den Stein des Anstoßes in wichtigen Bestimmungen
bildet. Ich erinnere nur an das Verlangen nach Wiedereinführung der Be¬
rufung, das bereits lebhafte Diskussionen hervorgerufen hat und sich schon in
dem verhältnismäßig vorgerückten Stadium gesetzgeberischer Behandlung befindet.
Hieraus läßt sich schließe», daß in kürzerer oder längerer Frist eine mehr oder
weniger umfassende Revision der Strafprozeßordnung und der etwa dadurch be¬
rührt werdenden Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes bevorsteht. Zweck
dieser Zeilen ist es, auf ein Bedürfnis aufmerksam zu machen, das dem Praktiker
sehr häufig fühlbar wird und für das Abhilfe zu treffen vielleicht bei einer


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[0486] Juristische Fragen. richterlichen Haftbefehls der Staatsanwalt die Aufnahme Angeschuldigter in das Gefängnis verweigerte, weil sie nicht zuvor einem Reinigungsverfahren unterzogen worden waren, und einen Verhafteten wieder, trotz des richerlichen Haftbefehls, ent¬ ließ, weil derselbe mit einem körperlichen Leiden behaftet war, welches sein Ver¬ bleiben im Gefängnisse mit dessen Ordnung und Reinlichkeit unverträglich erscheinen ließ. Nimmt aber auch der Staatsanwalt einen Angeschuldigten in das Gefängnis auf, so thut er dies nur auf Grund eines richterlichen Haftbefehls, wodurch die Bestimmung, daß der Richter einen Tag Frist zur Vernehmung des verhaftet Angeschuldigten habe (§ 115 der Strafprozeßordnung), illusorisch wird; der Richter muß vielmehr den von der Polizei ihm Angeführten Angeschuldigten sofort mitten zwischen seiner übrigen Geschäften gleichsam im Sturme vernehmen, um ihn nur loszuwerden, da er selbst ein Verhaftungslokal nicht besitzt. Ob eine derartige Vernehmung dem Interesse der Strafrechtspflege entspricht, mag dahingestellt bleiben! Es sind hier nur einige Punkte hervorgehoben worden, welche im Interesse einer energischen Verfolgung der Gesetzesübertretungen einer Revision bedürfen. Wenn sich die Gesetzgebung selbst von der Tendenz leiten läßt, in übertriebner Weise den Angeklagren geradezu bei der Aburteilung der Gesetzesübertretungen zu begünstigen, dann ist es selbstverständlich, daß die Gerichte hieraus die Konsequenz ziehen müssen und danach auch immer mehr die Anklage vom Ge¬ sichtspunkt des Angeklagten aus betrachten lernen. Das Leben aber zieht daraus noch weitere Konsequenzen und begehrt bereits jetzt, wie wir eingangs gesehen, Schutz gegen die Gerichte. Hier gilt es also einzuschreiten, ehe es zu spät ist. V. Gerland. 3. Zur Revision der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfafsungsgesetzes. Kaum sind die großen Justizgcsetze etwas über vier Jahre in Wirkung, und schon werden zahlreiche Stimmen laut, die eine Revision derselben in ein¬ zelnen, mitunter den prinzipiellsten Punkten verlangen. Insbesondre ist es die Strafprozeßordnung, die den Stein des Anstoßes in wichtigen Bestimmungen bildet. Ich erinnere nur an das Verlangen nach Wiedereinführung der Be¬ rufung, das bereits lebhafte Diskussionen hervorgerufen hat und sich schon in dem verhältnismäßig vorgerückten Stadium gesetzgeberischer Behandlung befindet. Hieraus läßt sich schließe», daß in kürzerer oder längerer Frist eine mehr oder weniger umfassende Revision der Strafprozeßordnung und der etwa dadurch be¬ rührt werdenden Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes bevorsteht. Zweck dieser Zeilen ist es, auf ein Bedürfnis aufmerksam zu machen, das dem Praktiker sehr häufig fühlbar wird und für das Abhilfe zu treffen vielleicht bei einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158166/486>, abgerufen am 02.05.2024.